Unter dem Eis
entgegen aller Prognosen der Ärzte, sein Bewusstsein zurückerlangt hat, mehr quälen oder mehr freuen würde, wenn er seine Hand ergreift.
»Üball.« Die Lippen des Kranken sind rissig. Mit jedem Wort, das er hervorstößt, schäumt sein Speichel weißlicheBlasen in die Mundwinkel. Seine Augen saugen sich an Manni fest. Manni rückt den Stuhl ein Stück näher zum Kopfende des Bettes. Ein Scheißtag ist im Begriff, zu Ende zu gehen. Ein Scheißtag mit wenig mehr als Scheißstillstand. Der Junge Jonny und sein Dackel bleiben wie vom Erdboden verschluckt, es gibt keine Zeugenaussagen, die sie weiterbringen, Jonnys Stiefvater behauptet weiterhin, er sei am Samstagnachmittag allein spazieren gegangen. Er ist nervös, aber davon einmal abgesehen können sie ihm bislang keinerlei Fehlverhalten oder gar eine Misshandlung des Dackels nachweisen. Jonnys bester Freund Tim war krank, seine reiche Luxusmama hat sich strikt geweigert, die Polizei an sein Krankenbett zu lassen. Und währenddessen verschlechtert sich die Spurenlage im Königsforst stündlich; sollte die Hundestaffel jetzt noch etwas finden, käme das einem Wunder gleich. Und als Krönung des Ganzen der Reinfall mit Miss Cateye gestern Abend. Nicht einmal ihren Namen hat er ihr entlockt.
Manni schafft es nicht, die Hand seines Vaters zu ergreifen. Er fühlt sich leer. Ein verstümmelter Dackel, ein Junge in panischer Angst, ein paar Tropfen Blut und eine Baseballkappe. Je länger er darüber nachdenkt, je länger sie im Trüben fischen, desto sicherer ist er: Jonny ist tot. Millstätt und Thalbach haben vorhin in der Eingangshalle des Präsidiums über Manni gesprochen. Ganz deutlich hat er seinen Namen gehört. Und die Art, wie sie sofort das Thema wechselten, als er sich ihnen näherte, die übertrieben joviale Freundlichkeit, mit der sie ihm einen schönen Feierabend wünschten, hat ihn ganz und gar nicht beruhigt. Sie werden mir den Fall wegnehmen, denkt er. Sie lassen mich nicht zurück in eine Mordkommission. Und die Krieger vergnügt sich derweil in Kanada – unbehelligt von irgendwelchen Versetzungsmaßnahmen, sondern im Gegenteil sehnsüchtig zurückerwartet. Miss Superhirn vom KK 11 .
Er zuckt zusammen, weil ihn seine Mutter an der Schulter berührt.
»Ich geh mal kurz in die Cafeteria, unterhaltet euch gut, ihr zwei«, flüstert sie.
»Geh nur.« Manni zwingt sich zu einem Lächeln. Ganzaußer Atem vor Freude hatte seine Mutter nachmittags am Telefon geklungen, als sie ihn aus dem Meeting klingelte und beschwor, sofort ins Krankenhaus zu kommen. Sein Vater sei wach, es sei ein Wunder. Ich beeile mich, hat Manni erwidert. Aber genau das hat er nicht getan und jetzt ist es Abend, 21 Uhr schon, und in die Stimme seiner Mutter ist wieder die alte Resignation gekrochen.
»Üball «, wiederholt der Mann im Bett mit feuchtem Mund.
»Ja, Papa, ich weiß, du bist viel rumgekommen.«
»Fü dich!«
Die Luft in dem halbdunklen Krankenzimmer scheint noch dicker zu werden. Manni beißt die Zähne zusammen. Dies ist nicht der richtige Ort, die richtige Zeit, zu widersprechen. Nie war die richtige Zeit dafür.
»Ich weiß, Papa, du hast es gut gemeint. Hast uns das Haus gebaut, Mama und mir.«
Und wenn dir danach war, hast du uns geschlagen.
Er muss pissen, verdammt noch mal. Er muss nach Hause, duschen, etwas essen, schlafen, damit er morgen weiterkommt. Der Kranke sabbert weiße Blasen, beinahe sieht es so aus, als wolle er ausspucken.
»Aba du hasnichsdrausjemach, Jung. Schmeiß dein Leben weg.«
»Das stimmt doch nicht.«
»Bulle. Mein eigna Sohn. Scheiße.«
»Sich auf der Straße die Gesundheit ruinieren, sich von Speditionen schikanieren lassen für einen Hungerlohn ist auch nicht besser.«
»Bulle.« Noch mehr Sabber. Eisige Verachtung, so lange hat Manni die schon gespürt, jetzt, endlich ist sie ausgesprochen. Manni springt auf.
»Immer noch besser als LKW-Fahrer. Schau dich doch an, was aus dir geworden ist. Ein Mann im Rollstuhl, der seine Familie tyrannisiert und die Welt hasst!«
»Manni!« Scheiße, auch das noch. Die Stimme seiner Mutter, hysterisch, flehend, schrill. Ihre Hand krallt sich in seinen Arm. »Bitte, Manni!«
»Bulle!« Wieder spuckt sein Vater aus.
»Und was bist du? Ein Prolo! Einer der glaubt, die Fahrerkabine von so ’nem LKW ist das Schaltzentrum der Welt, aber sorry, Dad, so ist das nicht. Ich verdiene jetzt schon mehr als du! Ich trage, verdammt noch mal, Verantwortung für Menschenleben. Also wag es nie
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