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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Natursteinbeckens gepresst. Die Frau, die auf ihr Klopfen hin die Fliegengittertür öffnet, lächelt allerdings nicht sehr werbewirksam, besonders als Judith nach Terence Atkinson fragt. Ihr Mann sei gegenwärtig in Montreal und wünsche im Übrigen in seinem Feriendomizil nicht gestört zu werden, erwidert sie knapp. Nein, den Namen Charlotte Simonis hat sie nie gehört, die Person auf dem Foto, das Judith ihr zeigt, kennt sie nicht. Immerhin rückt sie Atkinsons Handynummer heraus, bevor sie wieder in ihrem Cottage verschwindet, aus dem nun das gedämpfte Heulen streitender Kleinkinder dringt.
    Judith lenkt den Mietwagen zurück bis auf die Schotterpiste, dort wählt sie die Nummer von Terence Atkinsons Handy, erreicht eine Mobilbox und bittet um Rückruf. Sie blickt hinunter auf das weiße Cottage. Schwer war es nicht zu finden,aber Charlotte muss trotzdem nicht hier gewesen sein. Vielleicht hat sie die Postkarte mit dem Eistaucher gar nicht als Einladung verstanden, vielleicht ist die Sehnsucht Charlottes nach Atkinson nur etwas, was Judith sich einbildet. Judith denkt an diesen David Becker auf dem Steg, die Verletzungen, die sie in seinen Augen gelesen zu haben glaubt, das merkwürdige Gefühl von Vertrautheit. Wie kann es sein, dass sie sich nach einem Mann sehnt, den sie nur fünf Minuten gesehen hat? Wieso fühlt es sich seit einer halben Stunde an, als sei ihr Leben unvollständig ohne ihn? Sie spinnt. Hoffentlich liegt das nur am Jetlag.
    Judith starrt auf die Schotterpiste. Nach links abbiegen und herausfinden, ob es dort Nachbarn gibt, die etwas über die Atkinsons wissen. Zurück nach Cozy Harbour fahren und Charlottes Bild herumzeigen. Weiter nach Parry Sound fahren, wo sich die nächste Polizeistation befindet. Hoffen, dass Atkinson bald anruft und weiß, wo Charlotte ist. All das sind Möglichkeiten, vernünftige Möglichkeiten, Ermittlungsschritte. Sie gibt Gas, lenkt den Wagen nach rechts, zurück nach Cozy Harbour. Die Strecke kommt ihr länger vor als auf dem Hinweg, viel zu lang, obwohl sie schneller fährt. Sie parkt am Hafen, exakt an derselben Stelle wie vor einer Dreiviertelstunde, und steigt aus. Boote, Möwen, stille Häuser. Wasser, das in der Mittagssonne gleißt. Das Flugzeug ist noch da, aber der Steg ist leer. Idiotin, schilt sie sich stumm.
    »Judith.«
    Sie dreht sich um, mit einer einzigen unendlich ruhigen Bewegung, weil es seine Stimme ist. Er steht vor einem geduckten, blau gestrichenen Holzhaus.
    »Ich musste zurückkommen.« Ihre Stimme ist belegt.
    »Ja.«
    Sie nähert sich ihm, Schritte auf Watte, wie in einem Traum. Ganz vorsichtig, als sei sie ein scheues Tier, ergreift er ihre Hand.
    Wieder die Wärme, die unerklärliche Geborgenheit.
    »Ich wollte zurückkommen«, korrigiert sie sich. Wollte die Leichtigkeit wieder, auch wenn das kaum möglich ist, weiß nicht, warum. Doch das kann sie ihm natürlich nicht sagen.
    »In drei Stunden bin ich für einen Flug gebucht. Aber bis dahin könnten wir …«
    »Ja.«
    Blankgetretene Dielen im Inneren des blauen Hauses. Flutendes Mittagslicht. Rollos aus hellem Segeltuch vor den Fenstern zum Hafen, Küchenzeile, Schreibtisch, eine Sitzecke und in einem zweiten Raum, dessen Tür weit geöffnet ist, ein großes Bett. Sie stehen davor, immer noch Hand in Hand. Wie Hänsel und Gretel, denkt Judith. Verlorene Kinder mit einer Hoffnung.
    »Warte.«
    David Becker öffnet den Wandschrank, nimmt frische Laken, bezieht das Bett, die Decken. Judith lehnt an der Wand und verfolgt, was er tut. Ich will das, denkt sie, auch wenn es mir Angst macht, ich kann jetzt nicht gehen. Etwas ist zu Ende, etwas Neues beginnt. Vielleicht bin ich ja deshalb hier.
    Sein Körper an ihrem Körper, seine Hände auf ihrer Haut, sanft und mühelos, wie Sommerwind. Der Geruch seiner Haut, kaum wahrnehmbar und doch überwältigend, der leichte Geschmack nach Salz. Warmer Atem. Hitze, die ihre Körper weich macht, fließen, glänzen lässt.
    Sie sprechen nicht, während sie sich auf den Gliedern des anderen vorwärts tasten. Zu Hause, denkt Judith, als David – nach wie langer Zeit? – in ihr ist. Und dann denkt sie gar nichts mehr, und es gibt nur noch Verlangen und Hitze, die sich anfühlt wie Glück.

    »Warüball«, nuschelt der Mann in seinem Krankenhausbett. »Spanen, Idalen, Tügai, Russian – üball.«
    Manni weiß nicht, was er sagen soll. Gar nichts weiß er, schon gar nicht, ob es diesen schwerkranken Mann, der sein Vater ist und der heute,

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