Unter dem Eis
Ende zuneigt, wird das Licht weicher. Elisabeth stützt die Arme auf den Küchentisch und stemmt sich hoch. Der Schwindel kommt und vergeht, ihr Rücken schreit, sie zwingt sich, weiterzuatmen, bis der Schmerz erträglich wird. Sie schlurft zum Kühlschrank und isst von den Erdbeeren, die sie am Morgen geerntet hat. Barabbas muss sich die Beine vertreten und sein Geschäft verrichten, später, wenn es dunkel ist, kann sie ihn nicht mitnehmen. Einkaufen muss sie außerdem. Sie hält Barabbas an der Leine, willig geht er an ihrer Seite, den Handwagen zerrt sie mit der Linken hinter sich her. So lange hat sie sich gesträubt, dieses Geschenk ihrer Tochter zu benutzen. Ein Omawägelchen, hat sie protestiert, das brauche ich nicht, so alt bin ich noch nicht. Aber Carmen wollte das Geschenk nicht zurücknehmen, und schließlich ist es dann doch nicht mehr ohne gegangen.
Barabbas zuliebe macht Elisabeth einen Abstecher zu den Sportplätzen, als sie die Besorgungen erledigt haben. Hinter dem Feld versperrt das Kraftwerk den Blick, ein fauchender Koloss aus Stahl und Stein, zum Greifen nah. Dampfwolken blähen aus seinen Kühlwassertürmen in den Himmel. O Herr, wie schön ist deine Welt, steht auf dem steinernen Kreuzneben dem Fußballplatz. So oft hat Elisabeth diese Inschrift schon gelesen, doch heute fragt sie sich auf einmal, ob zuerst dieses Kreuz da war oder das Kraftwerk und was das Kreuz mit dem leidenden Jesus gerade an dieser Stelle zu bedeuten hat. O ja, die Welt ist schön, aber wir Menschen zerstören sie, denkt sie. Zerstören, was Gott uns gab, weil wir einfach nicht genug bekommen können. Mehr Strom, mehr Geld, mehr Land, immer mehr, mehr, mehr wollen wir und das wird unser Verderben sein.
Hier, so nah beim Kraftwerk, hört sie das stete Tuten der Sirenen, das Rumpeln und Quietschen, mit dem die Transportbänder die Braunkohle vorwärtsschieben, das Surren des Umspannwerks, das niemals verstummt. Früher hat sie diese Geräusche sogar gehört, wenn sie in ihrem Garten saß. Heinrich und sie haben das in Kauf genommen und gelernt, damit zu leben, weil das Kraftwerk Heinrich Arbeit gab und ihnen Haus und Garten bezahlte, so dass Frimmersdorf, dieser Ort am Rande der Braunkohlehalden, ihnen trotz all der Hässlichkeit seiner geschundenen Umgebung zur Heimat wurde. Und irgendwann haben sie das Fauchen, Surren, Summen und Tuten des Kraftwerks nicht mehr gehört, haben gelernt, den Blick zu beschränken. Auf den Garten, auf den Fluss, auf jene Bereiche außerhalb Frimmersdorfs, die die von Mensch und Maschinen zernarbte Natur sich trotz allem zurückeroberte.
»Frau Vogt?« Die Stimme eines Mannes holt Elisabeth zurück in die Wirklichkeit. Verwirrt löst sie den Blick von dem Kreuz. Ein früherer Kollege von Heinrich steht vor ihr und mustert sie besorgt. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja, o ja, danke. Ich war nur einen Moment lang in Gedanken.«
»Das ist die Hitze. Man weiß bald nicht mehr, wohin mit sich. Am Fluss ist es noch am erträglichsten.«
Er hebt zum Gruß seine Angelrute und geht an ihr vorbei Richtung Fluss. Elisabeth folgt ihm langsam. Graue Haare hat er bekommen, denkt sie. Früher ist er immer mit dem Moped gefahren und hat den Frauen schöne Augen gemacht. Jetzt geht er zu Fuß.
Schlagartig kommt die Erinnerung zurück, an die langenSekunden, bevor Barabbas im Wald zu knurren anfing. Erschrocken, entsetzt schlägt Elisabeth die Hand vor den Mund. Da war ein Mann. Wie hat sie das nur vergessen können? Oder hat sie es verdrängt? Da war ein Mann, jetzt sieht sie ihn wieder vor sich. Deutlich jünger als Heinrichs ehemaliger Kollege, und doch hat der sie gerade irgendwie an diesen Mann erinnert, hat die Erinnerung überhaupt erst wachgerüttelt.
Es ist nur eine Ähnlichkeit, nur eine vage Ähnlichkeit, versucht sie sich zu beruhigen. Geh heim und warte, bis es dunkel wird. Bring zu Ende, was zu Ende gebracht werden muss, damit hast du genug zu tun.
Aber die Bilder wollen sich nicht verscheuchen lassen. Jemand war am Sonntagmorgen im Wäldchen, ein Mann, und diesen Mann hat sie schon einmal gesehen. In Frimmersdorf. Oder nicht? Doch, sie hat ihn schon einmal gesehen, sie täuscht sich nicht. Je länger sie darüber nachdenkt, desto sicherer ist sie, dass ihr löchriges Gedächtnis ihr diesmal keinen Streich spielt.
Old Marthas Cottage sieht aus, als stehe es Modell für einen Kanada-Werbeprospekt. Ein einsames weißes Steinhaus vor türkisfarbenem Wasser, ins Ufer eines
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