Unter dem Eis
mehr, mich zu beleidigen!«
Weißlicher Speichel. Keuchender Atem. Das Piepsen der Überwachungsmonitore. Manni löst sich aus dem Klammergriff seiner Mutter, die leise zu schluchzen beginnt. Er braucht Luft, dringend, er muss ein Klo finden, er muss hier raus, einfach nur raus. Hinter ihm schnappt die Tür ins Schloss. Er beginnt zu laufen.
Sie öffnet die Augen, umfasst Davids Gesicht. Er riecht frisch geduscht und ist angezogen. Die Sonne hinter den weißen Stoffrollos hat sich ein paar Zentimeter weiterbewegt.
»Morgen Mittag komme ich zurück. Bitte bleib«, sagt er leise.
»Ich …«
»Oder komm wieder. Nebenan ist Kaffee und geröstetes Brot. Der Schlüssel liegt auf dem Tisch. Wenn du morgen nicht hier sein kannst, leg ihn unter die Fußmatte.«
»Wo fliegst du hin?«
»Algonquin Park.«
»Gibt’s da Eistaucher?«
»Loons? Klar.«
Judith setzt sich auf. »Ich muss dir ein Foto zeigen. Eine Schulfreundin …«
Er löst sich von ihr. »Tut mir leid, ich muss wirklich los.«
Einen Augenblick später fällt die Haustür ins Schloss.
Judith steht auf und geht ins Bad. Drei Stunden sind vergangen, seit sie dieses blaue Holzhaus betreten hat. Drei Stunden, die sie nicht darauf verwendet hat, Charlotte zu suchen. Nicht sehr lange, aber es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Heißhungrig ist sie auf einmal, durstig. Sie zieht sich an, trinkt mehrere Gläser Wasser und isst Davids Brot mit Käse und Tomaten,lange hat sie nichts mehr so intensiv geschmeckt. Sie schenkt sich einen Tonbecher Kaffee ein und geht damit auf die Holzveranda. Zu ihren Füßen liegt das Hafenbecken von Cozy Harbour unverändert im gleißenden Nachmittagslicht, nur das Wasserflugzeug ist jetzt fort.
Noch einmal wählt Judith Atkinsons Handynummer, wieder erreicht sie nur seine Mobilbox, und das bringt das Gefühl von Gefahr zurück. Ist Atkinson jetzt, in diesem Moment, mit Charlotte zusammen, ist das der Grund, warum seine Ehefrau so feindselig auf Besuch aus Germany reagiert? Judith dreht sich eine Zigarette. Bislang weiß sie nur, dass Charlotte in Toronto war und dort Atkinson an der Universität besuchte, und das ist eindeutig zu wenig.
Sie versucht sich vorzustellen, was Charlotte in Toronto getan hat. Eine Frau ohne Bindungen, die ihre Karriere gleich zweimal aufgegeben hat, erst wegen ihrer kranken Eltern, dann sogar wegen eines Wildvogels, der sich auf einen deutschen See verirrte und verendete, weil es dort Menschen gab. Eine ungelenke Frau, die sich mit 39 Jahren, als ihr nach dem Tod ihres Vaters nichts außer einem Haus voller Reliquien geblieben ist, endlich auf den Weg gemacht hat. Spätestens in Toronto muss sie erfahren haben, dass der Mann, dessen Postkarte ihr die Erfüllung eines Traums versprochen hatte, verheiratet ist. Was hat sie dann gemacht? Gekämpft? Versucht, ihn zu verführen? Resigniert?
Danke, Charlotte, haben Judith und die anderen Schülerinnen damals gesagt, als Charlotte die handgeschriebenen Einladungen zu ihrem 15 . Geburtstag verteilte. Sie waren ganz schön baff, dass Charlotte diese Einladungen verteilte, obwohl sie doch im Jahr davor wegen der fehlenden Cola wochenlang gehänselt worden war. Am Tag der Party verabredeten sie sich am Neumarkt, um ein Geschenk zu kaufen und danach zu Charlotte zu gehen. Dachte Judith. Aber dann hieß es: Scheiß auf die blöde Charlotte in ihrem langweiligen Spießerhaus. Und so waren sie stattdessen durch die Innenstadt gestromert, hatten in den Kaufhäusern Parfüm- und Cremeproben mitgehen lassen, Klamotten anprobiert und bei Burger King Fritten gegessen.
Und Judith hatte mitgemacht. Mit schlechtem Gewissen zwar, aber froh, dass sie dabei sein durfte, obwohl sie das ganze Getue um Jungs und Schminke langweilig fand. Abends hat sie dann Charlotte angerufen, gratuliert und etwas von einer Erkältung genuschelt. Wahrlich keine Heldentat und total fadenscheinig, aber Charlotte nahm es ganz offenbar als Freundschaftsbeweis. Wie ein treues Hündchen hat sie damals immer wieder Judiths Nähe gesucht. Und Judith hat es geschehen lassen, stets in der Hoffnung, dass die anderen es nicht bemerken. Und weder sie noch Charlotte noch die anderen Mädchen in der Klasse haben Charlottes Geburtstag jemals wieder erwähnt.
Wie feige ich damals war, denkt Judith jetzt. Na schön, ich war jung, ich hatte Angst, ich wollte nicht geächtet werden. Das uralte Gesetz in jeder Gemeinschaft, die auf Unterdrückung basiert. Die Außenseiter verbünden sich nicht miteinander,
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