Unter dem Eis
sauer ersparte Rücklage für defekte Waschmaschinen und andere Eventualitäten, am Ende des Jahres wollten sie eine Sondertilgung für ihren Hauskredit damit finanzieren. Jetzt ist das Konto leer. Frank hat 20000 Euro abgehoben. Einen Tag bevor Jonny verschwunden ist.
Mechanisch drückt sie auf »Kontoauszug drucken«, mechanisch faltet sie den Ausdruck und fährt den Computer herunter. Sie zittert jetzt so stark, dass jede ihrer Bewegungen eine Ewigkeit in Anspruch nimmt. Sie hat diese Suche hinter dem Rücken ihres Mannes gemacht, weil sie trotz aller Angst überzeugt war, dass sie sich so beruhigen kann, dass sie nichts anderes finden wird als Indizien seiner Unschuld. Jetzt weiß sie, dass sie sich geirrt hat, und kommt nicht damit klar. Jonny, denkt sie einmal mehr. Bitte, Jonny, komm zurück. Immer kleiner und kleiner falten ihre kalten, zittrigen Finger den Kontoauszug, und immer noch pumpt und jagt es in ihrer Brust mit der Frequenz eines Säuglingsherzens, dabei hat sie soeben eine Unschuld verloren.
Sie schaltet die Schreibtischlampe aus, der Kontoauszug liegt in ihrer kalten Hand, ein kleines hartes Rechteck. Sie schiebt es in die Jackentasche ihrer Strickjacke. Jonnys Taschenlampe umklammernd, steht sie auf, zittert aber so stark, dass ihr die Knie wegrutschen. Sie stolpert aufs Sofa, starrt in die Dunkelheit. Noch haben sie Jonny nicht gefunden, noch gibt es Hoffnung. Oder nicht? Sie streichelt die Taschenlampe, bevor sie sie einschaltet. Kein Lichtkegel, nicht einmal ein Schimmer. Ihr Herz explodiert, die Angst reißt es in tausend Stücke, das intuitive Wissen, dass sie sich nicht irrt.
Dann nichts mehr, kein Gefühl, nur bodenlose Dunkelheit.
Jemand rüttelt an der Tür, klopft und ruft nach ihr.
»Martina, was ist los? Martina, warum weinst du? Martina, mach auf!«
Sie wankt durch die Schwärze und hält sich an der Türklinke fest. Dreht den Schlüssel im Schloss und macht eine abwehrende Geste, die Frank augenblicklich gefrieren lässt.
»Die Taschenlampe«, flüstert sie. »Jonny ist tot.«
Die Kriminalpolizistin Margery Cunningham sieht aus wie ein Erzengel: klein, rund und blondlockig. Doch ihr Händedruck ist fest, ihr Blick geradeheraus, und ihre Stimme hatdas Timbre einer Nachtclubsängerin, die zu oft von Träumen singt, die sie längst begraben hat. Konzentriert hört sie sich an, was Judith über die verschwundene Charlotte Simonis zu sagen hat, und das, denkt Judith, ist genaugenommen ein Wunder so unverhofft, wie ich hier in diese Polizeiwache in the middle of nowhere hineingeschneit bin. Ein Wunder oder die in jedem Reiseführer beschworene kanadische Freundlichkeit, die ich bislang für ein Märchen gehalten habe. Oder vielleicht ist meine Audienz hier auch schlicht und einfach der Langeweile des Sommerlochs in einer Provinzpolizeistation geschuldet.
»I’ll see what I can do for you«, sagt die Erzengelkommissarin, deren Augen überraschenderweise nicht himmelblau, sondern dunkelbraun sind. »We should know more by tomorrow.«
»Heute wäre mir lieber«, sagt Judith auf Englisch und wundert sich, wie gut das noch klappt.
Margery Cunningham zieht die Augenbrauen hoch.
»Ich glaube, dass Atkinson lügt. Ich bin ziemlich sicher, dass Charlotte Simonis ihn in Cozy Harbour aufgesucht hat. Ich werde jetzt dorthin zurückfahren und ihr Foto herumzeigen. Aber vielleicht ist das ja ganz sinnlos, weil ihr etwas zugestoßen ist. Vielleicht«, Judith deutet auf den Computer der Kommissarin »ist sie längst als unidentifizierbare Tote registriert.«
»Ein Verbrechen?«
»Ich weiß nur, dass Charlotte möglicherweise irgendwo hier in dieser Gegend ist und dass Terence Atkinson nicht sagt, was er weiß.«
»Er ist ein angesehener Bürger.«
»Sie kennen ihn?«
»Ich lebe in Cozy Harbour.« Die kanadische Kollegin mustert Judith mit schräg gelegtem Kopf, dann scheint sie zu einem Entschluss zu kommen.
»Also gut, mein Urgroßvater war Deutscher, und es kommt ja nicht oft vor, dass eine deutsche Kollegin mich um Hilfe bittet. Sie übernachten in Cozy Harbour?«
Judith nickt.
»Kommen Sie um acht zum Dinner. Bis dahin weiß ich mehr.«
Die kanadische Kommissarin kritzelt eine Adresse auf die Rückseite ihrer Visitenkarte. »Auf der Piste an Old Marthas Cottage vorbei, dann etwa drei Meilen bis zum Ende des Fahrwegs. Dort wohne ich.«
Cozy Harbour, das Judith nach einer halben Stunde Autofahrt erneut erreicht, wirkt immer noch verschlafen, nur die Gaststätte am Hafen ist
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