Unter dem Eis
jetzt geöffnet. Träge Männer mit Baseballmützen und karierten Hemden trinken am Tresen Bier und blicken aufs Wasser. Aus einer Jukebox dudelt ein Mariah-Carey-Hit, der Fernseher über der Bar zeigt Nachrichten ohne Ton. Nein, ja, schon möglich, vielleicht – mit Sicherheit will keiner der Männer bestätigen, dass die Frau auf dem Foto schon einmal hier gewesen ist. Eine eher schüchterne Frau, ziemlich groß, insistiert Judith. Eine Vogelforscherin, die sich für loons interessiere. Eventuell ein Gast von Terence Atkinson. Die Männer reichen das Foto herum, trinken von ihrem Bier, schütteln die Köpfe.
Draußen bei den Anlegern glaubt Judith einen Moment lang, das Wasserflugzeug zu sehen, und die Erkenntnis, dass sie sich geirrt hat, bringt die Unwirklichkeit zurück, das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Die Stunden mit David, das Wissen, in seinen Armen zu Hause zu sein und doch nicht bleiben zu können, haben sie weich gemacht, durchlässig. Vermutlich liegt es daran, dass sich die Sorgen um Charlotte und die Erinnerungen an sie hier in diesem großen leeren Land immer weniger in Schach halten lassen. Der Tod. Einen Augenblick lang ist Judith überzeugt, dass es das ist, was die Tarotkarte ihr sagen wollte: dass sie den Tod finden wird, nicht den Beginn eines neuen, besseren Lebens. Hör auf, du bist übermüdet, ermahnt sie sich. Außerdem hast du dich in Köln monatelang aus allem herausgehalten – kein Wunder, dass du nun überwältigt bist.
Aber sie will sich nicht überwältigt fühlen, sie will Charlotte finden, will diese Suche, die keine offizielle Ermittlung ist und sich doch mehr und mehr so anfühlt, im Griff haben und zu Ende bringen, bevor sie zurück nach Köln fliegt und dortihren Dienst für die Toten antritt. Als sei ein Erfolg im »Fall« Charlotte ein gutes Omen für ihre Rückkehr ins KK 11 und ein Scheitern – hör auf, Judith, quäl dich nicht. Sie dreht sich eine Zigarette und inhaliert in tiefen Zügen.
Der Supermarkt von Cozy Harbour verkauft neben Lebensmitteln und Drogerieartikeln auch Fahrtenmesser, Angelruten und Campingzubehör. Ein mit einer Eisengittertür abgeriegelter Hinterraum dient als Liquor Store und ist soeben im Begriff zu öffnen. Weitere Baseballmützen und Karohemd tragende Männer, die denen aus der Gaststätte am Hafen verblüffend ähnlich sehen, bilden eine geduldige Schlange, um in braune Papiertüten verpackte Bierdosen, Wein- oder Schnapsflaschen entgegenzunehmen. Judith kauft eine Flasche trockenen Rotwein, Mineralwasser und einen Kaffee. Die Tatsache, dass Atkinson sie abgewimmelt hat und dass sie keine Handhabe hat, ihn schärfer anzupacken, nagt an ihr. Wieder zeigt sie Charlottes Foto herum. Wieder will niemand mit Sicherheit sagen, Charlotte schon einmal gesehen zu haben.
Wie so oft kommt der Treffer in dem Moment, in dem sie schon nicht mehr damit gerechnet hat. Ja, sagt die Kassiererin beim Bezahlen nach einem kurzen Blick auf das Foto, sie erinnere sich. Eine Ausländerin. Deutsch oder skandinavisch. Eine hochgewachsene Frau. Sie habe eine Campingausrüstung gekauft und sich alles genau erklären lassen, etwa vier Wochen sei das her.
»Hat sie gesagt, was sie vorhatte? War sie in Begleitung?«
Die Verkäuferin schüttelt den Kopf.
»Wo wollte sie hin?«
Die Verkäuferin lächelt bedauernd. »Zelten, nehme ich an. Wo? Ich habe keine Ahnung.«
Sie muss die Kassiererin von ihrer Ladentheke und den Kunden loseisen, sie braucht eine Kopie der Quittung von Charlottes Einkauf, doch dazu ist sie nicht befugt, und die erneute Erinnerung daran, wie sehr ihr ohne ihren Dienstausweis die Hände gebunden sind, macht sie wütend. Alles, was sie hier im Moment noch tun kann, ist, Namen und Telefonnummer der Verkäuferin zu notieren.
Zurück in ihrem Mietwagen, klemmt Judith denKaffeebecher aus Styropor zwischen die Knie und biegt wieder auf die Schotterpiste ein, die aus Cozy Harbour herausführt. Sie widersteht der Versuchung, bei Old Marthas Cottage abzubiegen und Atkinson mit der Aussage der Verkäuferin zu konfrontieren. Solange sie ihm nicht beweisen kann, dass er mit Charlotte zusammen war, wird er das nicht zugeben.
Die nächste Abzweigung hinter der Zufahrt zu Old Marthas Cottage führt hinunter zu einer unbebauten, menschenleeren Bucht. Immer noch erstreckt sich die Georgian Bay bis zum Horizont, doch das intensive Türkis ist nun zu samtigem Dunkelblau geworden. Inzwischen ist es kurz nach 19 Uhr, in Köln schon weit nach
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