Unter dem Eis
weil auch sie die Normen der Stärkeren verinnerlicht haben und selbst glauben, dass sie verabscheuungswürdig sind und es nur schlimmer machen, wenn sie sich mit den anderen Gebrandmarkten zusammentun. Trotzdem hätte ich mich ja gegen diese Regeln stemmen können.
Wieder lenkt Judith den Mietwagen über die Schotterpiste und biegt auf die Zufahrt zu Old Marthas Cottage ein. Diesmal spielt Atkinsons Frau mit zwei Kindern draußen am Strand. Ein attraktiver dunkelhaariger Mann in Bermudashorts sitzt auf einem Felsen und sieht ihnen zu. Er hält eine Flasche Bier in der Hand. Judith hält vor der Kate an und steigt aus dem Wagen. Die Frau des Professors macht eine unwillig wedelnde Handbewegung, als wolle sie ein Insekt verscheuchen. Judith beachtet sie nicht und läuft zu dem Mann auf dem Felsen.
»Professor Atkinson, I’m looking for Charlotte Simonis. A German friend of mine.«
Er drückt die Bierflasche in den Sand und steht auf. »Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagt er in beinahe akzentfreiem Deutsch, aber in seinen Augen liest Judith etwas anderes. Besorgnis, Erschrecken. Oder sogar Angst?
»Ich muss wirklich sehr dringend mit Ihnen reden«, beharrt sie. »Warum haben Sie meine Anrufe nicht beantwortet?«
»Anrufe?«
»Auf Ihrem Handy. Ich dachte, Sie sind in Montreal.«
Verwirrt sieht er sie an.
»Ihre Frau hat gesagt, Sie wären in Montreal.«
»I didn’t want her to disturb your holidays, dear«, meldet sich Atkinsons Frau zu Wort, die sich Judiths Bemerkung offenbar zusammengereimt hat. Oder kann sie ebenfalls Deutsch?
»Ich war mit dem Kanu weg.« Der Professor macht eine vage Handbewegung zur Bucht hin. »Ich weiß nichts von Ihren Anrufen, im Urlaub benutze ich mein mobile nicht.«
»Können wir irgendwo ungestört reden?« Judith hat keine Lust, noch weiter Verstecken zu spielen. Ein Dienstausweis wäre jetzt schön. Da sie den nicht hat, versucht sie es mit der Weibchenmasche und schenkt dem Professor ein Lächeln.
»Ich habe wirklich große Angst um meine Freundin. Wenn Sie mir nur fünf Minuten Ihrer Zeit schenken könnten?«
»Wenn das so wichtig für Sie ist.« Atkinson ignoriert die Giftblicke seiner Frau. »Gehen wir in mein Büro.«
Das Büro ist ein winziges, holzgetäfeltes Zimmer im ersten Stock der weißgetünchten Kate.
»Sie müssen bitte meine Frau entschuldigen. Sie findet, dass ich überarbeitet bin, und ist deshalb manchmal ein bisschen zu besorgt um mich«, erklärt Atkinson. »Overprotective, verstehen Sie?«
Eifersüchtig trifft es vermutlich besser, denkt Judith. Immer noch lächelnd, legt sie das Foto von Charlotte und die Eistaucher-Postkarte vor Atkinson auf den Tisch.
»Meine Freundin hat Sie vor ein paar Wochen in Toronto besucht.«
Atkinson nickt zögernd.
»Hatten Sie sie eingeladen?«
»Nein. Sie kam völlig überraschend.«
Judith deutet auf die Postkarte. »One day we’ll make it come true, haben Sie ihr geschrieben. Sie hat früher oft von Ihnen geschwärmt. Was sollte denn wahr werden?«
»Das ist lange her.«
»One day we’ll make it come true«, wiederholt Judith.
Atkinson seufzt. »Loons – Eistaucher. Das war damals in Köln, ich war ja oft bei ihrem Vater zu Gast. Charlotte war immer so fasziniert, wenn ich von unserer kanadischen Fauna sprach. Das habe ich wohl gemeint – dass ich ihr unsere Loons zeigen wollte, wenn sie je nach Kanada käme.«
»Aber das stand ja nicht zu befürchten.« Das ist jetzt nicht mehr so freundlich. Atkinson schweigt.
»Und dann ist Charlotte doch gekommen. Was haben Sie denn da gemacht? Haben Sie Ihr Versprechen gehalten?«
Nervös blinzelt Atkinson zur Tür. Judith lächelt ihn an.
Er seufzt. »Sie wollte Eistaucher beobachten, ein Langzeitprojekt für ihre Dissertation. Ich habe ihr eine Adressliste unserer Naturparks gegeben.«
»Eine Adressliste.«
»Ich konnte doch nicht mit ihr – es war doch mitten im Semester. Ich habe Familie.« Wieder schaut Atkinson zur Tür. »Charlotte hat das verstanden.«
»Haben Sie ein Verhältnis mit ihr?«
»Nein!«
Zum ersten Mal hat Judith das Gefühl, dass er die Wahrheit sagt. Vielleicht ging es Charlotte ja gar nicht um Atkinson, überlegt sie. Vielleicht ging es ihr tatsächlich um die Eistaucher und die Wissenschaft und Atkinson sollte nur der Geburtshelfer zu einer neuen Karriere als Vogelforscherin sein.
»Eine Adressliste«, wiederholt sie. »Ist das nicht ein bisschen wenig Hilfe für die Tochter Ihres alten Mentors?«
»Ich bin
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