Unter dem Eis
Mitternacht. Der Ruf eines Seevogels schwebt durch die Luft, sehnsüchtig, klagend und fremd. Der Vogel selbst ist nicht zu sehen. Entschlossen streift Judith ihre Kleidung ab und taucht nackt ins Wasser. Sie schwimmt mit kräftigen Stößen vom Ufer fort. Wieder erklingt der exotische Schrei des Vogels. Immer noch vermag sie den Verursacher nicht zu entdecken, doch jetzt irritiert sie das nicht mehr, weil es auf eine archaische Art und Weise zu dieser einsamen Bucht zu gehören scheint. Sie dreht sich auf den Rücken und lässt sich von den Wellen tragen, bis sie sich erfrischt fühlt.
Statt Rock und Bluse trägt Margery Cunningham jetzt Jeans und ein leuchtend rot kariertes Flanellhemd. »Let’s eat first, I’m starving«, schlägt sie mit ihrer rauchigen Stimme vor, nachdem sie sich begrüßt haben. Ihr hölzernes Wohnhaus wirkt winzig im Vergleich zu der daneben liegenden Scheune, die, wie Margery erklärt, ihr Mann als Schreinerwerkstatt nutzt. Neben der Scheune parkt ein staubiger Pick-up-Truck, daneben liegen mehrere Stapel Bretter und rohe Baumstämme. Margery entkorkt den Wein und drückt Judith zwei Gläser in die Hand.
»Wir essen am Strand. Barbecue. Gegrillte Maiskolben und Hamburger, the real Canadian experience. Die anderen warten schon.«
»Die anderen?«
»Mein Mann und die Kinder.«
»Brauchen wir nicht noch ein drittes Glas?«
»Sean trinkt nicht.«
Das Barbecue stellt sich als Lagerfeuer heraus, eine Decke im warmen Sand dient als Sitzplatz, über dem Wasser geht die Sonne unter, von einem Rost verströmen Maiskolben und würzige Frikadellen einen verführerischen Duft. Sean sieht indianisch aus, doch in den Gesichtern der Kinder, dunkel wie das ihres Vaters, entdeckt Judith auch etwas von der engelhaften Weichheit der Mutter. Sie essen in schweigendem Einvernehmen, mit jedem Bissen fühlt Judith, wie hungrig sie war. Zum Nachtisch spießen die Kinder schaumig weiße Marshmallows auf Stöcke und lassen sie über den Flammen schmelzen.
»Willst du auch?« Margery deutet auf die Marshmallow-Tüte. »Der Traum aller kanadischen Kinder.«
»Lieber nicht.«
»Dann gehen wir ans Wasser.« Die Kanadierin nimmt die Weinflasche, streift die Wange ihres Mannes mit dem Hauch eines Kusses und steht auf.
Ein glattgewaschener Stamm Treibholz dient ihnen als Rückenlehne. Der Himmel explodiert in Rot- und Violetttönen. Judith dreht sich eine Zigarette, auch Margery will eine. Sie rauchen und sehen zu, wie die Farben vom Himmel sich im Wasser ausbreiten.
»Ich wollte niemals fort. Die Stadt, Toronto, das ist nichts für mich.« Margery trinkt einen Schluck Wein.
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Judith lässt Sand durch ihre Finger rieseln. »Der Dreck, die Enge. Zu Hause in Köln finde ich es auch manchmal schwer, das auszuhalten.«
»Die Menschen änderst du nicht. Und hier einen Mann zu finden, ist wie Lottospielen. Die Guten gehen in die Stadt, die Trinker bleiben hier.«
»Wie habt ihr euch kennen gelernt, Sean und du?«
Margery lacht ihr kehliges Nachtclublachen. »Im Gefängnis. Ich fuhr damals noch Streife und hatte ihn verhaftet, wegen Trunkenheit am Steuer. Am Morgen, als er halbwegs nüchtern war, konnte ich sehen, dass er ein ernstes Alkoholproblem hatte, wie so viele Angehörige unserer sogenannten First Nation, aber ich sah auch, dass er im Grunde in Ordnung war. ›Komm wieder, wenn du nüchtern bist‹, hab ich zuihm gesagt. Und so hat er’s ein halbes Jahr später gemacht. Seitdem ist er trocken.«
»Und hattest du keine Angst?«
»Angst?« Margery streckt die Beine aus. »Doch. Und dann das Gerede der Leute. Aber im Endeffekt hab ich versucht, auf das zu hören, was mein Herz mir sagte. Dass Sean gut für mich ist, dass er besser ist als die meisten hier, dass er trocken bleiben wird, dass wir es schaffen können. Und ich wollte Kinder. Klingt banal, nicht wahr?«
Judith lächelt. »Ja.«
»Die Angst ist kleiner geworden. Ich hab nicht mehr jedes Mal Angst, wenn er sich verspätet. Ganz verlieren werd ich die Angst vermutlich nie, aber ich kann damit leben. Und was ist mit dir?«
Angst? Ja, jede Menge. Angst vor der Liebe, vor ihren Konsequenzen. Angst vor der Leere, wenn die Liebe vergeht. Angst, dass aus Lebenden Tote werden.
»Ich weiß noch nicht, ich war lange allein. Jetzt hab ich jemanden kennen gelernt, ganz neu. Die äußeren Umstände sprechen nicht für uns.« Das ist nicht genug, aber fürs Erste muss es reichen. Judith fühlt Margerys Blick auf
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