Unter dem Eis
Schatten, die mit schwerfälligem Flügelschlag hintereinander über den Hafen fliegen. »Das ist ungewöhnlich, dass die hier so nah vorbeiziehen, sie sind sonst sehr scheu.«
»Charlotte Simonis wollte Eistaucher beobachten. Du hast sie in die Wildnis geflogen, am 24 . Mai.«
»Woher weißt du das? Wer bist du?«
»Judith. Judith Krieger. Eine ehemalige Schulkameradin von Charlotte.«
»Krieger.«
»Komm mir jetzt bitte nicht mit Amazonen. Euer Büro hat gesagt, dass du Charlotte am 24 . geflogen hast. Nur wohin, das wussten sie nicht. Ich hab versucht, dich anzurufen.«
»Da, wo ich war, gibt es keinen Empfang. Wieso gibt unser Büro einfach Kundendaten raus?«
»Nicht ich habe gefragt, sondern die Polizei.«
»Die Polizei.«
Die Bedienung kommt und stellt Teller vor ihnen ab. Auch David hat sich für das Tagesmenü entschieden, doch so hungrig, wie er gerade erst gesagt hat, ist er offenbar doch nicht. Er ignoriert seinen dampfenden Burger und studiert Judith.
»Die Polizei sucht also nach Charlotte Simonis.«
»Ich suche nach Charlotte. Ich habe bei der Polizei lediglich gefragt, ob es eine unidentifizierbare Tote gibt, auf die Charlottes Beschreibung passt. Da haben die ein bisschen rumgefragt.«
»Und wie sind sie auf mich gekommen?«
»Himmel, David, über ihr Motel, über euer Büro, das ist doch egal. Ich will Charlotte finden und du hast sie geflogen, oder stimmt das etwa nicht?«
»Okay, ja, ich habe sie geflogen. Aber ich kann dir nicht sagen, wohin.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihr das versprochen habe.«
»Charlottes Visum läuft nächste Woche ab.«
»Bitte, Judith. Meine Kunden bezahlen mich dafür, dass ich ihre Wünsche erfülle und diskret bin.«
Diskretion. Wünsche erfüllen. Welche Wünsche? Die Liebessehnsüchte vereinsamter Städterinnen? Was hat Margery Cunningham gesagt? David Becker ist ein bisschen zu smart. Judith legt ihr Besteck auf den Tellerrand. Zu heftig, es klirrt hart.
»Es geht hier nicht um Kundenwünsche. Es geht darum, dass niemand seit dem 23 . Mai etwas von Charlotte Simonis gehört oder gesehen hat. Dass sie möglicherweise in Gefahr ist. Dass du bislang der Letzte bist, der sie lebend gesehen hat.«
Wieder blickt David aufs Wasser. »Da, wo sie ist, geht es ihr gut.«
»Bring mich zu ihr.«
Er schüttelt den Kopf. »Das will sie nicht.«
»Das soll sie mir bitte schön selbst sagen.«
»Sie will allein sein.«
»Du weißt also, wo sie ist.«
»Was läuft hier, Judith? Ich komm mir vor, als würde ich verhört, als hätte ich deine Freundin umgebracht. Du redest auf einmal wie ein Bulle. Was ist eigentlich los? Gestern Mittag, das war – ich weiß nicht, was. Und jetzt?«
»Es war wunderschön gestern Mittag.« Etwas zieht in Judiths Magen. »Aber da wusste ich noch nicht, dass du mich zu Charlotte bringen kannst. Und ich muss Charlotte finden.«
»Sie ist da, wo sie hinwollte.«
»Ich muss zu ihr.«
Lichtpunkte in seinen Augen, fliehende Schatten. Sie willihm vertrauen, will das nicht zerstören, indem sie überlegt, was vorher war und was noch kommen wird. Will das Jetzt mit ihm, so lange es eben geht. Es kann nicht sein, dass ihr Körper sie täuscht.
Sie essen schweigend. Erst als die Kellnerin den Kaffee serviert und Judith ihre Zigarette dreht, beginnt David zu sprechen. Dass er zunächst geglaubt habe, Charlotte wolle das, was alle Touristen sich wünschen: ein paar Tage Abenteuer mit Lagerfeuer, Kanu und Wildtieren. Stattdessen verlangte sie aber, dass er sie an einen See brachte, jenseits aller Straßen und Touristenrouten, an einen geheimen Ort, wo sie für den Rest des Sommers ein Zelt aufschlagen und Eistaucher beobachten könne.
»Alle zwei Wochen fliege ich hoch und bringe ihr Vorräte«, beendet David seinen Bericht. »Sie bezahlt mich dafür, sie zahlt gut. Für die Lieferungen. Vor allem aber für meine Diskretion. Ich kann sie nicht verraten.«
»Atkinson, Terence Atkinson. Weiß der, wo Charlotte ist?«
»Atkinson? Wieso fragst du das?«
»Seinetwegen weiß Charlotte überhaupt von den Loons. Seinetwegen ist sie hier.«
Er nickt. »Mag sein.«
»Hat sie von ihm gesprochen?«
»Sie redet nicht viel.«
Schweigsame Charlotte. Einsame Charlotte. Allein in den Wäldern, allein mit den Eistauchern. Allein am einzigen Ziel, von dem sie sich nicht hat abbringen lassen. Ist es so? Ist das das Ende dieser Suche? Die Lösung? Ich sollte erleichtert sein, denkt Judith. Ich habe sie gefunden. Ich hatte Recht, die Eistaucher
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