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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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hätte sie es dir erzählt?«
    »Ja.«
    Was für eine Aussage über eine seit vielen Jahren andauernde Beziehung, die Berthold selbst als Freundschaft bezeichnet.
    »Charlotte hat dir nie etwas von Atkinson und den Eistauchern erzählt, oder?«
    Berthold Prätorius schweigt.
    »Wie gut seid ihr eigentlich befreundet, Berthold?«
    »Na ja, wie gesagt, seit der Schulzeit, ich weiß natürlich, dass Charlotte sich für Vögel interessiert, und wir haben uns immer über alles Berufliche …«
    »Ausgetauscht, ja, das habe ich verstanden.«
    »Du musst sie finden«, wiederholt Berthold zum x-ten Mal.
    »Das versuche ich ja.«
    Sie verabschieden sich nach ein paar Takten Smalltalk über das Kölner Wetter, das immer noch schwül ist, ohne Aussicht auf Abkühlung. Ein Jahrhundertsommer, der die Menschen mürbe macht, wie Berthold sagt. Auch Judith fühlt sich auf einmal mürbe. Das Gefühl tiefer Einsamkeit, das in BertholdsWorten mitschwang, deprimiert sie, nein, nicht die Einsamkeit, sondern das Fehlen jeglichen Aufbegehrens dagegen. Für einen Augenblick sieht sie Berthold vor sich, wie er früher war, ein dicklicher Schüler mit tintenfarbenen, zerkauten Fingern. Wie er gelacht hat, wenn sie ihn gehänselt haben. Wie er seine Tollpatschigkeit bis ins Groteske übertrieben hat, damit sie noch mehr lachen. Wie seine Augen nicht mitgelacht haben, zwei blanke, ausdruckslose Spiegel. Ist es das, was auch mit Charlotte geschehen ist? Hat auch sie ihre Gefühle und Sehnsüchte so lange verborgen, bis sie unerreichbar wurden, erfroren wie unter Eis?
    Eine Stunde später parkt Judith den Mietwagen auf dem Parkplatz des Moonshine Motels. Der noch beinahe kindlich wirkende Nachtportier an der Rezeption nickt nachdrücklich, als sie ihm Charlottes Foto zeigt.
    »Ich weiß, dass Sie schon mit der Polizei gesprochen haben, deshalb bin ich hier. Charlotte Simonis ist meine Freundin, ich bin aus Deutschland hierher gekommen, weil ich mir Sorgen um sie mache.«
    »A friend.« Dies scheint ihn gesprächiger zu stimmen, auch wenn es nicht viel ist, was er berichten kann. Charlotte sei früh am Morgen aufgestanden und spätabends wiedergekommen. Eine Naturfreundin, ihrer Kleidung nach zu schließen, wie so viele deutsche Touristen. Geredet habe er kaum mit ihr.
    »Wie ging es ihr?«, fragt Judith.
    Verständnislos schaut der Portier sie an. Vielleicht hat er sich noch nie über die Gefühlslage von aus seiner Sicht älteren Frauen Gedanken gemacht.
    Judith probiert es trotzdem. »Wirkte sie glücklich? Bedrückt? Aufgeregt?«
    Er zuckt die Schultern. »Sie hat nie viel gesagt. Aber wenn Sie so fragen, ich würde sagen: Normal. Eher glücklich als unglücklich.«
    »Und sie war immer allein?«
    »Ja, das heißt, fast immer. Einmal hat jemand sie auf dem Parkplatz abgeholt. Ein Mann.«
    »Würden Sie den wiedererkennen?«
    »Möglich.«
    Judith legt das Foto von Atkinson, das sie in der Kölner Universität entwendet hat, und den Trips to the Wilderness -Prospekt mit David Beckers Konterfei auf die Theke. »War es einer von diesen beiden Männern?«
    Der Portier studiert die Bilder eingehend, dann tippt er auf den Prospekt. »Bei denen hat sie eine Reise gebucht. Aber der andere hier, der hat sie mal abgeholt.«
    Atkinson. Judith fühlt das altbekannte Prickeln.
    »Sicher?«
    »Ich denke schon.«

    Allmählich drehen alle durch. Seine Mutter ruft ihn im Viertelstundentakt an, akzeptiert einfach nicht, dass er nicht mit ihr sprechen will. Beim letzten Anruf hat er sie angeschrien; dass sie nun endlich Ruhe gibt, ist trotzdem keineswegs sicher. Und Martina Stadler ist eine noch härtere Nuss. Erst heult sie und kotzt sich die Seele aus dem Leib, wenn man sie befragt, nun auf einmal ist sie eiskalt und behauptet, Jonny sei tot. Und die ganze Zeit ist völlig offensichtlich, dass sie etwas verschweigt, wahrscheinlich um ihren Mann zu schützen. Manni versucht, sich auf Thalbachs Gequatsche zu konzentrieren. Es müssten unbedingt alle sofort ins Präsidium kommen, darauf hatte der Leiter des Vermisstenkommissariats bestanden. Aber nun, da sie füßescharrend im stickigen Besprechungsraum hocken, weiß ihr Chef nichts zu sagen, als lang und breit über die fatale Botschaft zu lamentieren, die ein unauffindbares Kind darstellt, über besorgte Bürger, bösartige Medienvertreter und natürlich vor allem über die bevorstehende Pressekonferenz, die er einmal mehr ohne Erfolgsmeldung durchstehen muss, blablaba.
    Jonny ist tot. Ich bin seine Mutter.

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