Unter dem Eis
Ich spüre das. Martina Stadlers Worte rotieren in Mannis Kopf wie die Endlosschleife einer Callcenter-Ansage. Die allermeisten Vermisstenfälle haben sich nach zwei, spätestens drei Tagen erledigt, weil der Vermisste wieder auftaucht. Der Junge Jonny Röbel ist jetzt seit fünf Tagen verschwunden, und außer einer Baseballkappe, ein paar Blutstropfen, dem Geruch von Angst, dessen flüchtige Existenz ohnehin nur die Spürhunde bemerkten, einem Dackelohr und nun auch dem dazu passenden toten Dackel haben sie nichts.
Hat Martina Stadler Recht? Ist ihr Junge tot? Sie hat das ohne erkennbare Gefühlsregung behauptet, beinahe sachlich, als habe sie sich bereits damit abgefunden. Vielleicht liegt es daran, dass ihm das so unter die Haut geht. Ich spüre das. Manni hat solche Behauptungen verzweifelter Angehöriger schon früher gehört. Als er nicht anrief, habe ich sofort gewusst, dass etwas passiert ist. Ich bin nachts aufgewacht und habe gefühlt, sie lebt nicht mehr. Doch das war im Verlauf einer Mordermittlung, als sie das Opfer schon gefunden hatten, er hatte diese Bekundungen eines angeblich existierenden sechsten Sinns der Angehörigen deshalb nie sonderlich ernst genommen.
Thalbachs Sekretärin stiefelt in den Besprechungsraum und überreicht einen Packen Fotos. Thalbach wirft einen kurzen Blick darauf, reicht sie herum. Es gibt nur zwei Motive: Eines zeigt den rotgrün karierten Kinderkoffer, das andere denselben Koffer zu Füßen des hölzernen Jesus. Wehmütig blickt der Gottessohn über die Dächer Frimmersdorfs hinweg in den Himmel, wo sich, wie Manni weiß, die fettleibigen Dampfwolken der Kraftwerke blähen.
»Warum Frimmersdorf?« Thalbach stemmt sich vom Stuhl hoch und verschränkt die Arme hinter seinem Rücken.
»Der Täter hat einen Bezug zu Frimmersdorf.« Petra Bruckner spricht langsam, als sei sie gerade aufgewacht.
»Welchen?«
»Er wohnt oder wohnte da, arbeitet da, hat Freunde oder Verwandte dort, er kennt das Dorf …«
»Überprüf das. Für jeden auf eurer Liste.«
Manni setzt sich aufrechter hin. »Der Täter wollte, dass wir den Dackel finden. Der Platz unter dem Jesus – das ist wie eine Botschaft.«
Thalbach sieht Manni an, aufmerksam, undurchdringlich, wie gestern im Foyer, als Manni versehentlich in Thalbachs Gespräch mit Millstätt hineingerannt ist.
»Was für eine Botschaft?«
»Reue? Die Bitte um Vergebung?« Laut ausgesprochen klingt das ziemlich gaga, Manni fühlt, wie ihm noch heißer wird. Warum kann er nicht die Schnauze halten? Was haben Thalbach und Millstätt gestern über ihn entschieden? Er weiß es nicht, und wahrscheinlich ist es sowieso ganz egal, was er jetzt noch tut oder sagt; wenn aus der Vermisstensache eine Todesermittlung wird, ist er raus, die Krieger wird übernehmen, ein abgekartetes Spiel, also kann er seinen Gedanken genauso gut weiterspinnen. Er holt Luft und sieht Thalbach an. »Oder der Dackel ist nur ein Symbol. Jonnys Stiefmutter ist jedenfalls seit heute Morgen fest davon überzeugt, dass Jonny tot ist.«
Thalbach legt den Kopf schief. »Verständlicherweise liegen bei den Stadlers die Nerven blank. Halten wir uns für den Moment an das, was wir haben.«
»An Mannis Interpretation könnte was dran sein«, schaltet sich die Bruckner ein. »Der Täter bedauert, dass er den Dackel getötet hat. Er will, dass er beerdigt wird. Sogar mit kirchlichem Segen. Deshalb hat er ihn vor die Kirche gelegt.«
»Ein durchgeknallter Täter also«, sagt Manni.
»Oder sehr tierlieb«, widerspricht die Bruckner.
»So tierlieb, dass er ihm das Ohr abschneidet? Und wenn wir schon dabei sind: das Ohr im Königsforst, der Hund in Frimmersdorf, 40 Kilometer weit weg. Warum?«
»Das abgeschnittene Ohr war tätowiert. Vielleicht wusste der Täter nichts von dem Mikrochip. Also hat er das Ohr abgeschnitten, damit man den Dackel nicht identifizieren kann.«
»Und warum dann jetzt auf einmal der Zeitungsausschnitt?«
Entnervt sehen sie sich an.
»Tierlieb, durchgeknallt oder was auch immer – auf jeden Fall war dieser Koffer vor kurzem begraben«, sagt die Stimme des Kriminaltechnikers Klaus Munzinger, der den Besprechungsraum unbemerkt betreten hat.
»Ein exhumierter Dackel?« Thalbach guckt ungläubig.
»Könnt ihr von den Erdresten darauf schließen, wo der Koffer vergraben war, Klaus?«, fragt die Bruckner.
»Wenn wir die passende Vergleichsprobe haben, klar. Im Moment analysieren wir auf gut Glück Proben aus Frimmersdorf und aus dem
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