Unter dem Eis
Spurensicherung Jonny gesessen haben muss, die Holzbank ist unbequem. Was treibt einen Jungen, der spielt, er sei ein Späher, in diese Hütte? Wollte er sich hier verstecken? Wohl kaum, Hütte und Holzbank sind gut einsehbar, ein Stück des Fußwegs ist von der Bank aus zu erkennen.
Manni betrachtet die Konturen der Bäume, die mit der aufgehenden Sonne plastischer werden. Wir haben die falschen Fragen gestellt, denkt er. Wir haben uns einlullen lassen von wohlmeinenden Lehrern, einer verzweifelten Mutter und einem stummen Stiefvater. Manni rekapituliert die Aussagen aus den Berichten. Ein netter Junge, klug, gut in der Schule, beliebt, aber am liebsten allein. Indianerfan. Mitglied der Schul-Schach-AG. Wie blass, wie nichts sagend all diese Beschreibungen sind. Trotzdem haben sie das hingenommen und vergessen, die wichtigste Frage zu stellen. Die Frage, wer Jonny wirklich ist.
Und auch die zweitwichtigste Frage ist bis dato unbeantwortet: Was hat diesen Jungen, der es liebte, andere zu beobachten, hier in diesem Wald mit abgrundtiefer Angst erfüllt?
Wolken treiben auf dem Wasser. Rosafarbene Wolken, ausgerechnet. An den Ufern schwimmt der Wald im See. Judith sitzt auf dem Holzsteg, versunken in das Schauspiel eines gedoppelten Himmels.
»Abends wird es hier oft so windstill, dass die Wasseroberfläche zum Spiegel wird«, ruft David vom Ufer.
Sie dreht sich halb zu ihm um. Wie Ertrinkende haben sie einander eben noch gehalten, Ertrinkende, Verhungernde. Aber das sind nur Worthülsen, Klischees, die nichts über die Bedingungslosigkeit zu sagen vermögen, mit der ihre Körper aufeinander reagieren.
Er kommt zu ihr auf den Steg, eine Flasche kanadischen Rotwein und ein Glas in der Hand, und schenkt ihr ein.
»Du nicht?«, fragt sie leise.
»Ich kümmere mich jetzt ums Essen.«
Nach dem ersten Mal sind sie geschwommen. Im Wasser haben sie sich dann noch einmal geliebt, ruhiger, wissender. Judith trinkt einen Schluck Wein. Er schmeckt nach Waldbeeren und erinnert sie an die Bouleabende mit Karl-Heinz Müller; wie aus einem anderen Leben erscheinen sie ihr. Sie dreht sich eine Zigarette, taucht ihre Füße in die Wolken, die im Zeitlupentempo um den Steg fließen. Das alles ist surreal. Ein einziges Zuviel von allem: Farben, Schönheit, Glück. Es kann nicht echt sein, nicht beständig, und doch wünscht sie, dass es genau das ist. Vier Stunden sind seit ihrer Ankunft in der Wildnis vergangen. Von Charlotte hat es bislang nicht das kleinste Lebenszeichen gegeben.
Zwei Wasservögel materialisieren sich wie aus dem Nichts, Silhouetten mit spitzen Schnäbeln. Erst als sie näher herangleiten, erkennt Judith das charakteristische weiße Muster am Hals und auf dem Rücken, das sie zuvor nur von Bildern kannte und aus ihrem Traum. Kreisrunde rote Augen glimmen sie an, archaische Blicke, gänzlich leer und dennoch Forschend. Eines der Tiere richtet sich im Wasser auf und schlägt mit den Flügeln. Im nächsten Augenblick verschwinden die Eistaucher von der Wasseroberfläche, und sosehr Judith sich auch anstrengt, sie sieht sie nicht mehr. Erst Minuten später entdeckt sie sie wieder, dunkle Schemen, weit draußen auf dem Wasser.
Die Verfärbung der Wolken wird intensiver, beginnt dann zu verblassen. Vielleicht ist es so einfach, denkt Judith, vielleicht ist dies hier ja die Wirklichkeit, oder besser, der Sinn: Ein Abend an einem See mit einem Mann, so fremd und so nah. Ein Glas Wein, ein Feuer und über allem diese Stille, die wie ein großes Atemholen ist. Keine Ermittlungen. Kein Tod.
Sie essen Spaghetti mit geräucherten Muscheln und Paprika, die David über dem Feuer bereitet hat. Die Nacht kommt jetzt schnell und mit ihr eine Kakophonie fremder Laute. Balzende Frösche, glucksendes Wasser, das Husten eines Waschbären, undefinierbares Rascheln. Der sphärische Ruf eines Eistauchers.
»Die Indianer sagen, die Loons tauchen zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten hin und her«, sagt David. »Es gibt unzählige Sagen, in denen Eistaucher den Menschen mit magischen Kräften zu Hilfe kommen. Irgendwo hab ich mal gelesen, dass auch die skandinavischen Samen das glauben. Die sind sogar davon überzeugt, dass die Welt der Toten am Grund der Seen beginnt. Sájvva nennen sie die.«
»Vielleicht haben sie Recht. Das spiegelnde Wasser, das hat schon was Mystisches.«
»Auf jeden Fall sind Eistaucher sehr alte Vögel. Alles Leben begann im Wasser – die Eistaucher sind noch immer aufs Wasser
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