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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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dass die Tochter je danach fragen würde, sie wusste nichts von diesem Namen. Den Adressaufkleber hat sie natürlich entfernt. Die Reste der Prilblumen-Aufkleber. Die Monogramme in den Laken. Sie hat nicht dran gedacht, dass der Koffer in die Nachrichten kommt. Sie werden ihr Barabbas wegnehmen, sie werden ihn töten und sie ist schuld daran.
    Das Telefon beginnt zu schellen, schrill und hart, wie Carmens Stimme, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Mühsam streckt Elisabeth ihren schmerzenden Arm nach dem Hörer aus.
    »Du hast Recht«, sagt sie, als Carmen sich gemeldet hat. »Der Koffer ist nicht mehr auf dem Dachboden. Als ich oben war, ist es mir wieder eingefallen, ich habe ihn letztes Jahr auf den Sperrmüll getan. Jemand muss ihn damals mitgenommen haben.«
    »Du hast meinen Koffer auf den Sperrmüll getan?«
    »Es tut mir leid, Carmen, ich dachte nicht, dass dir dieser Koffer etwas bedeutet.« Du hast dir doch gar nichts aus unseren Urlaubsreisen gemacht, will Elisabeth hinzufügen, beherrscht sich aber. Weg von uns, immer nur weg wolltest du, denkt sie. Aber sie darf jetzt nicht streiten, hat nicht die Kraft dazu. Jedes Wort ist schon schwer genug. Und es ist so wichtig, dass Carmen ihr glaubt. Ein allerletzter Versuch, eine allerletzte, hauchdünne Chance, Barabbas zu behüten.
    »Du wirfst nichts auf den Sperrmüll, Mutter, das glaube ich nicht. Du trennst dich doch nie von was.«

    Sein Vater lässt es sich nicht nehmen, Tim bis vor das Schulportal zu fahren; Tims Beteuerungen, den Rest des Wegs könne er gut laufen, überhört er einfach. Am Schuleingang steht die Keyser, seine Klassenlehrerin. Jetzt gibt es kein Entkommen mehr, müde klettert Tim aus dem Mercedes. Wie ein Schaf vor dem Schlachthof kommt er sich vor. Seine Klassenlehrerin lächelt ihm zu.
    »Alles in Ordnung, Tim, wieder gesund?«
    Tim nickt. Was bleibt ihm auch übrig, er hat es verbockt letzte Nacht, deshalb ist er hier. Nächste Woche gibt es endlich Ferien, aber das heißt: noch sechs Tage Bertolt-Brecht, und das hält er nicht aus. Jemand lacht hinter ihm. Tims Schultern versteifen sich, sein Herz beginnt zu rasen. Nicht Rumdrehen, beschwört er sich, nicht Rumdrehen, das macht es nur schlimmer, das wollen sie doch nur. Fahr, fahr, fahr, fleht er stumm. Aber sein Vater lässt das Autofenster herunter, offenbar will er mit der Keyser quatschen. Tim setzt sich in Bewegung. Wieder dieses Lachen. Tims Rücken tut weh, weil er den Kopf, so tief es geht, zwischen die Schultern duckt, er fühlt seine Schritte nicht. Es kostet so unendlich viel Beherrschung, sich nicht einfach auf den Boden zu werfen, sich nicht an die schmuddelige Backsteinfassade zu pressen, die Augen zu schließen und zu beten, dass er unsichtbar wird oder, noch besser, zu Stein.
    »Dein Vater sagt, du vermisst deinen Freund.« Die Keyser hat ihn eingeholt, legt ihm die Hand auf die verkrampften Schultern, so unverhofft, dass Tim zusammenzuckt. »Wir alle vermissen Jonny, wir alle hoffen, dass er bald wieder bei uns ist. Gib die Hoffnung nicht auf.« Sie gibt ihm einen leichten Stups Richtung Werksäle, in den ersten beiden Stunden hat Tims Klasse heute Kunst, auch so ein Fach, das ihm mal was bedeutet hat. Früher.
    Es wird ganz still, als er den Werksaal betritt. Wissen es schon alle? Haben schon alle seine Schmach gesehen, in ihren Handys abgespeichert, sich dran aufgegeilt, drüber gelacht, sie ihren Freunden gezeigt? Wie ein verängstigtes Tier drückt Tim sich an der Wand entlang zu seinem Platz. Ein paar von den Mädchen gucken ihn neugierig, beinahe mitleidig an, oderbildet er sich das nur ein? Lukas lehnt neben dem Fenster. In seinem Blick liegt etwas Lauerndes.
    »Seit wann bringt dich dein Vater zur Schule, Rinker?«
    »Weiß nicht, war nur heute.«
    »Hast du wieder Lügen erzählt?«
    Tim schüttelt den Kopf. In der Klasse ist es jetzt so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.
    »Lügen!« Ganz langsam zieht Lukas sein Handy aus der Hosentasche. »Vik hat mir ’n Bild gesimst. ’n wirklich lustiges Bild, warte, wo hab ich’s denn nur?«
    »Hier wird jetzt erst mal gar nichts gesimst, schaltet eure Handys aus, Leute, und setzt euch auf eure Plätze.« Die Stimme ihres Kunstlehrers duldet keinen Widerspruch. Expressionismus ist das Thema, als Einstieg sollen sie alle was malen, was ihnen ganz besonders wichtig ist, einfach aus dem Gefühl raus. Murren und Stöhnen wird laut, aber dann machen sich doch alle ans Werk, sogar Lukas. Tim

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