Unter dem Eis
angewiesen. Sie können nur vom Wasser aus abheben und nur im Wasser landen. Sie können minutenlang tauchen, sie jagen unter Wasser, ihr Körperbau ist fürs Schwimmen fast besser ausgelegt als fürs Fliegen. Seit Jahrtausenden haben sie sich kaum verändert, all ihre nächsten Verwandten sind ausgestorben.«
»Es ist also durchaus plausibel, dass eine Wissenschaftlerin wie Charlotte sich den Eistauchern verschreibt?«
»Ihr Schrei gilt als Symbol der nordamerikanischen Wildnis, sogar auf unserer Dollarmünze schwimmt ein loon – loony sagen die Kanadier dazu. Trotzdem sind loons immer noch wenig erforscht. Zu scheu. Schwer zu beobachten, dank ihres Doppellebens über und unter Wasser. Eine echte Herausforderung.«
Ist es das, was Charlotte gewollt hat, eine Herausforderung? »Morgen«, verspricht David, und wieder glaubt Judith, in seinen Augen Traurigkeit zu lesen, aber was weiß sie schon von ihm?
Eckpunkte hat er genannt: Flucht aus Deutschland, das ihm zu eng war, eine gescheiterte Ehe mit einer Kanadierin, die Liebe zu seinem Beruf, zur Natur. Sie hätte Fragen stellen können, nachhaken, sie wollte es nicht. Auch von ihrer eigenen Geschichte hat sie nicht viel erzählt. Es ist nicht wichtig, nicht hier, nicht jetzt.
Später trägt David ein Kanu zum See. Myriaden von Sternen glitzern im Schwarz bis hinab zu den Wipfeln der Bäume. Im Kanu gleiten sie fast lautlos übers Wasser, das sie mit einem zweiten Firmament empfängt, einem nassen Himmel. Weit draußen zieht David das Paddel ins Boot, und sie sehen zu, wie der Mond aus den Bäumen steigt, in kaltem, dunstigem Gold.
Dann beginnt der Gesang der Eistaucher. Ein einzelner Ruf erst, beinahe fragend. Die Antwort von weit her, hoch und zitternd. Und schließlich ein kollektives Tremolo, ein Klagegesang, der ohne erkennbaren Ursprung über dem Wasser schwebt, für immer geheimnisvoll, die Botschaft aus einer unerreichbaren Welt.
»Vergiss das nicht«, bittet David später in der Blockhütte, als sie unter seinem Schlafsack liegen. »Was auch immer passiert, vergiss das nicht.«
»Was?«
»Die Eistaucher. Uns. Hör nicht auf das, was die Leute so reden.«
»Ich bin Kommissarin, ich vergesse nichts.«
Es sollte ein Scherz sein, aber Davids Arm spannt sich beinahe unmerklich an. Judith versucht, sein Gesicht zu erkennen, aber es ist zu dunkel, sie ist müde, so unendlich müde, und sein Arm hält sie immer weiter fest, nun wieder weich und verführerisch warm. Sie will David noch etwas fragen, ihm versichern, dass sie aus privaten Gründen hier ist, aber stattdessen schläft sie ein.
Freitag, 29. Juli
»Der Koffer, Mutter, mein karierter Kinderkoffer. Hast du ihn gefunden?«
Elisabeth widersteht der Versuchung, den Telefonhörer einfach wieder auf die Gabel zu drücken. Sieben Uhr, so früh hat Carmen noch nie angerufen, im Gegensatz zu ihr selbst ist ihre Tochter ein unheilbarer Morgenmuffel. Aber jetzt will sie etwas von Elisabeth und deshalb wird sie nicht lockerlassen, so war sie immer schon, unerbittlich, wenn sie ein Ziel vor Augen hatte. Gnadenlos. Ein ewiges Rätsel ist es, wie ein Mensch, der aus ihr hervorgegangen ist, so anders sein kann als sie.
»Ich war gestern zu müde, um noch auf den Dachboden zu steigen«, erwidert Elisabeth.
»Du hast gesagt, du schaust nach, Mutter. Du hast es versprochen.«
»Sonst sagst du immer, ich soll langsam machen.«
»Himmel, Mutter, begreifst du das nicht? Jemand hat einen toten Hund vor die Frimmersdorfer Kirche gelegt. In einem Koffer, in dem mein Name steht. Das kann kein Zufall sein. Ich muss die Polizei anrufen. Es sei denn, du überzeugst dich jetzt augenblicklich davon, dass der Koffer noch auf dem Dachboden liegt.«
»Ist ja gut, ich sehe nach.«
»Ich rufe dich in einer Viertelstunde wieder an, Mutter.«
Barabbas tappt über den Linoleumboden der Küche, legt seinen Kopf auf Elisabeths Knie. Sie krault ihn hinter denOhren. Sie hat ihn beschützen wollen, sie hat all ihre Kräfte mobilisiert, es hat nicht gereicht. Sie hat nicht einmal gewusst, dass Carmens Name in dem Kofferdeckel stand, sie muss ihn damals auf Juist heimlich reingeschrieben haben, so muss es gewesen sein, das würde passen. Das ist meins, meins, meins. Auf Besitzstandswahrung war ihre Tochter schon als Kind bedacht. Und jetzt ist Carmen eine entschlossene Frau, die bald 50 wird. Elisabeth spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen. Sie kann Carmens Koffer nicht zurückholen, sie ist nicht auf die Idee gekommen,
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