Unter dem Eis
starrt auf sein Blatt. Er weiß, dass expressionistische Bilder bunt sind, bunt wie die Fische, die er in der Nacht zerschnitten hat.
»Was soll das sein, Tim, willst du mich veräppeln?« Ungläubig reißt der Kunstlehrer Tims Bild vom Block und hält es hoch. Tim hat die Vorderseite schwarz gefärbt. Die Klasse johlt.
»Was soll das sein, Tim?«
Die Tiefsee, denkt Tim, ganz weit unten ist es so, keine Farben mehr, nichts als Schwärze. Aber das sagt er natürlich nicht, denn sie würden ihm sowieso nicht glauben.
Etwas ist anders an Martina Stadler. Nicht ihre Kleidung. Sie trägt noch immer dieselbe schlabberige Sporthose, dasselbe T-Shirt wie am Vortag und krallt eine schmale Hand ins wollene Tuch, das sie trotz der Wärme um ihre Schultern geschlungen hat. Etwas ist anders an der Art, wie sie ihn ansieht. Gefasst, geradezu ruhig, und aus einem Grund, den Manni nicht benennen kann, erfüllt ihn das mit Unruhe.
»Frank ist nicht da«, erklärt Martina Stadler und dannleiser, mit einem Blick auf die beiden Rotznasen, die hinter ihr im Flur stehen und Manni angaffen: »Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Wir müssen reden«, sagt Manni.
Sie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Gehen Sie in die Küche, ich muss erst – Leander, Marlene, kommt mit, ihr dürft einen Film gucken.«
Wie schnell man sich an etwas gewöhnt, denkt Manni, während er sich in der Küche auf seinen Stammplatz setzt. Noch vor einer Woche kannte er diese Familie nicht, nun gehört sie zu seinem Leben.
»König der Löwen«, sagt Martina Stadler. »Damit sind sie eine Weile beschäftigt. Normalerweise dürfen sie morgens nicht fernsehen.« Sie setzt sich Manni gegenüber auf die Eckbank. »Jonny«, fängt Manni an. »Wir wissen noch zu wenig von ihm.«
»Ich habe Ihnen alles …«
»Nein, das haben Sie nicht.«
Es sieht aus, als ob sie gefriert, aber sie weicht seinem Blick nicht aus, erwidert ihn aus unergründlich grünen Augen. Schöne Augen in einem schönen Gesicht, das nun vom Schmerz verwüstet ist.
»Wer ist Jonny, was macht ihn einzigartig?«, fragt Manni.
»Leopold«, piepst eine Kinderstimme.
Martina Stadler springt auf. »Marlene, was machst du hier, ihr wollt doch den Film gucken.«
»Dürfen wir Schokolade?«
Martina Stadler reißt eine Schranktür auf, drückt ihrer Tochter zwei Riegel Kinderschokolade in die Hand, schiebt sie zurück auf den Flur.
»Erpressung. Kleine Monster. Sie wissen genau, wann sie damit durchkommen.« Sie setzt sich wieder auf die Eckbank, und wieder sieht es so aus, als ob sie in dieser Haltung gefriert. »Jonny war tatsächlich wie Leopold«, sagt sie mit steifen Lippen.
»Leopold?«
»Leopold ist ein Glühwürmchen. Die Hauptfigur aus Lenes Lieblingsbuch. Jonny hat es den Kleinen oft vorgelesen. DieKinder haben das geliebt, sie hatten dieses Ritual vor dem Einschlafen. Sie haben das Bilderbuch angeschaut und dann hat Jonny Leuchtzeichen für sie gemacht, mit seiner Taschenlampe.«
Wie zur Bestätigung ergreift Martina Stadler die Taschenlampe.
»Was ist so besonders an diesem Leopold?«
»Er ist der Lichtbringer«, Martina Stadlers Stimme klingt wie von weit her. »Man bemerkt ihn erst nicht, aber wenn man sich im Dunkeln fürchtet, ist er plötzlich da und knipst seine kleine Laterne an. Leopold hat keine Angst.« Sie lächelt, unnatürlich, mit steifen Lippen. »Jonny war genauso. Er hatte die Fähigkeit, allem etwas Positives abzugewinnen, weil er so viel Phantasie hatte. Er war ein Idol für Lene und Leander, er hat uns nach dem schrecklichen Tod seiner Eltern wirklich Licht gebracht, nachdem die schlimmste Trauerphase vorüber war.«
»Sie sprechen von ihm in der Vergangenheit.«
»Er ist tot.« Sie sieht ihn an. »Das wissen Sie doch selbst. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Wir wissen nicht, was passiert ist, wir können nur spekulieren.« Die Hundestaffel hat die Suche eingestellt. Der Junge kann natürlich trotzdem im Königsforst verscharrt worden sein. Oder woanders. Ist alles schon passiert. Ein paar Knochen, Weichteilreste, Haare, Bekleidungsfetzen – viel bleibt nicht übrig nach einer Woche Hochsommer im Freien. Aber sie haben nicht einmal das. Keine heiße Spur, keine Botschaft eines Erpressers, keine Leiche. Einfach nichts, nada. Auf einmal sehnt sich Manni regelrecht nach Klarheit, auch wenn das aller Voraussicht nach bedeuten wird, dass er raus ist aus dem Fall.
»Niemals hätte Jonny zugelassen, dass Dr. D. etwas passiert«, sagt Martina
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