Unter dem Eis
Gebirgskette der La Cloche Mountains. Nadelbäume werfen lange Schatten, Wasser glitzert. Das Nachmittagslicht lässt die Felsen rötlich schimmern.
»Rosafarbener Granit und weißer Quarz prägen diesen Park«, wieder Davids Reiseführerstimme in ihrem Kopfhörer. Judith lehnt sich ans Fenster, überlässt sich seinen Erklärungen. Eine Gruppe Maler, eine Group of Seven, hat sich Anfang des 20 . Jahrhunderts dafür stark gemacht, dass diese rosigen Felsen, die knorrigen Pinien und Fichten unter Naturschutz gestellt werden, erklärt er. Dass der saure Regen später den Gewässern schaden würde, haben die Künstler natürlich nicht vorausgesehen. Doch inzwischen werden die Abgase gefiltert, die Seen erholen sich wieder, und die Kanuten, die auf ihnen ihre Runden drehen, können Wildnis pur erleben.
Sie landen auf einem waldumstandenen See, außerhalb des Killarney Parks, wie David sagt, doch ob dies der Wahrheit entspricht, weiß Judith nicht. Bäume, Wasser, Felsen – die Zutaten haben sich nicht verändert, der Park hat keine sichtbaren Grenzen. Sie tuckern eine Weile über das Wasser, schließlich drosselt David den Flugzeugmotor. Judith erkennt einen Holzsteg, dann eine Blockhütte, halb versteckt unter Bäumen.
»Du hast mich also doch zu Charlotte gebracht.« Sie sucht eine Erklärung in seinen Augen, vielleicht auch etwas anderes, was sie lieber nicht so genau benennen will.
David schüttelt den Kopf. »Ich habe dich zu mir gebracht.«
Erleichterung, das ist es, was sie fühlt. Unprofessionelle, unrühmliche Erleichterung.
»Charlottes Lager ist nicht sehr weit von hier«, sagt David. »Wir sind eben drübergeflogen.«
»Wieso habe ich es nicht gesehen?«
»Schwer zu erkennen, ein grünes Zelt unter den Bäumen.«
»Warum hast du es mir nicht wenigstens gezeigt?«
David nimmt Judiths Hand. »Lass uns Zeit.«
»Hast du mich deshalb hierher gebracht? Weil du Zeit mit mir verbringen möchtest?«
»Wäre das ein Verbrechen?«
»David, verdammt, darum geht es nicht. Ich kann hier nicht herumsitzen und warten. Du weißt, wie dringend ich Charlotte finden muss.«
»Ja, ich weiß.« Ist da Schmerz in seinen Augen oder bildet sie sich das nur ein?
Er öffnet die Flugzeugtür, springt auf den Steg. Judiths Körper probt einmal mehr den Verrat. Sie gibt ihm nicht nach, nicht sofort, schaltet ihr Handy an, wartet darauf, dass es eine Nachricht von Margery anzeigt, irgendeinen entgangenen Anruf, aber es sieht nicht so aus, als hätte sie hier Empfang. Sie ist auf David angewiesen. Auf ihn, auf sich selbst. Sie sind zwei Menschen in einem leeren Land, von denen einer den entscheidenden Vorteil hat, dass er es kennt und ein Flugzeug besitzt. Vielleicht ist David tatsächlich der Dorfcasanova. Vielleicht hatte er nie die Absicht, sie zu Charlotte zu bringen, vielleicht weiß er gar nichts von ihr. Ein paranoider Gedanke, dagegen steht Margery Cunninghams Aussage, die Information von Davids Büro.
Judith schiebt das Handy in die Hosentasche und klettert zu David auf den Steg. Die grob behauenen, silbrigen Balken federn unter ihrem Gewicht. David macht einen Schritt auf sie zu. Sie dreht sich von ihm weg, blickt aufs Wasser. Die Luft ist weich, das Wasser blank, das Land um sie herum auf eine Weise still, wie sie es noch nie gehört hat. David legt die Arme um sie, eine fragende, federleichte Berührung. Sie lehnt sich an ihn. Die Balken unter ihren Füßen knarren, dann ist es wieder still. Kein Nachklang irgendeines Motors, einer Fabrik, einer Stromleitung, nicht das leiseste Echo von Stimmen, Schritten,Bewegungen, nur Davids Atem an ihrem Ohr und ihr eigener Herzschlag in ihrer Brust. Auf einmal wird Judith bewusst, wie laut es in Köln ist, wie laut es selbst in Cozy Harbour ist, gemessen an dieser Stille hier. Auf einmal erscheint ihr Charlotte sehr nah. Was macht sie hier, allein in einem grünen Zelt? Und was tut sie, wenn sie die Stille nicht mehr ertragen kann? Ist sie, die die Menschen fliehen wollte, nun eine Gefangene dieser stummen, endlosen Wälder?
Ein Schrei durchbricht die Stille. Noch mal. Und noch einmal. Ein übernatürlich hohes Tremolo, klagend, kopflos, sich beschleunigend, das Lachen einer Irrsinnigen. Judith fühlt Davids Arme fester um sich. Mit einem Ruck befreit sie sich.
»Was ist das?«
»Eistaucher«, sagt er.
Etwas jagt ihn aus dem Schlaf, er weiß nicht, was. Das Gefühl, zu rennen und nicht anzukommen, ein Versäumnis, ein toter Junge, das Sabbern seines Vaters. Ein
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