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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Lufthauch bewegt die Stoffgardine vor dem geöffneten Fenster, das Licht der Straßenlaternen wirft bläuliche Schatten. Es ist zu warm. Manni setzt sich auf. Sein Kopf ist wieder klar, immerhin, er hat zwar eine Feierabendrunde durchs Maybach gedreht, aber kein Bier bestellt, sondern ein Spezi. Miss Cateye ist nicht da gewesen, wie eine schwüle Phantasie kommt ihm der kurze Abend mit ihr inzwischen vor, ein Zerrbild, ein Sommernachtstraum. Er sieht auf die Uhr, 3.30 Uhr, viel zu früh zum Aufstehen, viel zu früh, um auch nur annähernd ausgeschlafen zu sein. Er weiß nicht, was mit ihm los ist, normalerweise kennt er keine Schlafstörungen, es muss die Hitze sein. Er stellt sich unter die Dusche, er ist auf eine überdrehte Art übermüdet und zugleich hellwach, also kann er ebenso gut ins Präsidium fahren.
    Die Gänge des KK 66 sind dunkel und leer. Manni schaltet das Deckenlicht an, setzt Kaffee auf und starrt auf seinen Computermonitor. Pappumlaufmappen stapeln sich daneben, unerledigte Vorgänge, Anfragen, Berichte von Vernehmungen. Zwei Kartons auf dem Fußboden enthalten den Wandschmuck aus seinem alten Büro, Sporttrophäen und Fotos von seinen Rheindorfer Kumpels, er hat bislang keine Lust gehabt, sie aufzuhängen. Manni fährt den Computer hoch. Er muss noch seinen Bericht von gestern tippen, aber erst einmal gilt es herauszufinden, was ihn aus dem Bett getrieben hat. Wen müssen sie noch befragen, wen müssen sie noch mal befragen? Klassenkameraden, Lehrer, Nachbarn, die Clubmitglieder der Kölschen Sioux? Zeile für Zeile kontrolliert er die Listen, beginnt mit der Schach-AG. »Tim Rinker vernehmen«, notiert er auf einen Extrazettel. Mannis Zeigefinger fährt die nächste Liste entlang, die Namen von Jonnys Mitschülern. Viktor Petermann, steht da. Ist das der Sohn des Indianerchefs oder nur eine zufällige Namensgleichheit? Wenn es kein Zufall ist, wieso hat Petermann das dann nicht erwähnt? Auf dem Flur gurgelt die Kaffeemaschine. Manni holt sich eine Tasse, lässt zwei Stück Würfelzucker hineinplumpsen. Ein weiterer Name fällt ihm auf: Ivonne Rinker. Eine Schwester von Tim? Manni notiert auch diesen Namen. Wenn sie die Schüler einzeln befragt hätten, wüssten sie jetzt schon mehr; wenn er sich gestern nicht von Tim Rinkers Mutter hätte abwimmeln lassen, auch. Außerdem ist er davon ausgegangen, dass Petra Bruckner einen Namensabgleich gemacht hat. Offenbar ein Irrtum.
    Manni tippt seinen Bericht und stopft die Ausdrucke in die bereits überquellenden Posteingangskörbchen von Thalbach und der Bruckner. Das KK 66 ist immer noch verwaist, vor den Fenstern dämmert der sechste Tag, an dem der Junge Jonny Röbel spurlos verschwunden ist. »Hagen Petermann«, notiert Manni auf seinem To-do-Zettel, »warum Frimmersdorf?«, »Kinderpornos/Händler/Holland?!« und nach einem Moment des Nachdenkens: »Was ist mit dem Stiefvater?«. Zu viele Fragen, zu wenige Antworten, so kommt er nicht weiter, so findet er den Jungen nicht. Er blättert in seinen Berichten, bis er das Protokoll der ersten Vernehmung des Indianerchefs gefunden hat. Was hat der über Jonny gesagt? Da steht es: Jonny sei ein Einzelgänger, ein Späher.
    Manni springt auf, plötzlich hellwach. Was tut ein Späher? Beobachten – ohne selbst bemerkt zu werden. Winnetou seidas Idol ihres Stiefsohns, hat Martina Stadler gesagt, auch wenn Jonny allmählich aus dem Indianeralter herauswachse, die Pubertät, Sie wissen schon. In Jonnys Zimmer stehen dennoch die gesammelten Karl-May-Werke im Regal, goldgrüne Rücken neben Indianer-Sachbüchern, Bildbänden, Harry Potter, Tolkiens Herr der Ringe und Comics. Im Computer der Stadlers sind diverse Indianersites wie auch die Karl-May-Festspiele und das Museum in Radebeul als Lesezeichen abgespeichert.
    Manni macht sich nicht die Mühe, seinen Computer herunterzufahren, er muss raus, nachdenken, je schneller, desto besser. Wenig später lenkt er den Fuhrpark-Vectra, den er inzwischen schon beinahe lieb gewonnen hat, auf den Zubringer zur A4, kurz darauf erreicht er den Rastplatz Königsforst, wo Mr Snacks Imbisswagen verriegelt und verrammelt aufs Wochenendgeschäft wartet. Manni steigt aus und verschließt den Vectra, der im Augenblick das einzige Auto auf dem Rastplatz ist. Picknicktische und Klohaus liegen verlassen da, auch auf der Autobahn ist nur wenig Verkehr.
    Es ist beinahe hell, als Manni die Schutzhütte erreicht. Er setzt sich exakt dorthin, wo laut Auskunft von Hundeführern und

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