Unter dem Eis
gekommen ist.
Tim löscht das Licht und tastet nach seinem Unterwasserbuch, das er am Nachmittag aus dem Bett geworfen hat. Er blättert es auf, liebkost die seidigen Seiten ein letztes Mal. Dann packt er Jonnys Messer fester und stößt die kalte Spitze hinein. Zerschneidet die stummen Fische, weil sie ihm nicht helfen.
Blau-, Braun- und Grüntöne, bis zum Horizont, nur hin und wieder durchbrochen von ein paar Häusern oder einer verlassenen Straße. David zieht die Nase des Flugzeugs nach links, das Ufer verschwindet, nichts als schillerndes Wasser liegt jetzt noch unter ihnen.
»In ein paar Minuten überqueren wir Manitoulin Island – das ist die größte Süßwassersee-Insel der Welt. Über 300 Kilometer lang. Nach einer Indianersage wurde hier ihr Gott geboren. Manitu«, erzählt Davids Stimme in Judiths Kopfhörer. Präzise, knappe Sätze, Reiseführerzitate. Es stört Judith nicht. Ihre letzte Urlaubsreise liegt über ein Jahr zurück. Vierzehn ruhige Tage mit Martin in einem korfiotischen Olivenhain. Martin, der für sie da war nach Patricks Ermordung, den sie dennoch nicht lieben konnte. Jetzt ist er Oberarzt in Erfurt, und sicher ist es nur eine Frage der Zeit, bis zu seinem neuen Leben auch Eigenheim, Ehefrau und Kinder gehören. Mit David ist es anders, vom ersten Moment an war es mit David anders. Wie eine halsbrecherische Schussfahrt kommt ihr die Begegnung mit ihm vor. Ein Beginn auf dem Gipfel, unverhofft mühelos und schwebend. Man stößt sich ab und nimmt Schwung auf, wohl wissend, dass die Geschwindigkeit ihre eigenen Gesetze hat, Gesetze, denen man sich beugen muss, und nur wenn man das tut, kann man diese Schussfahrt genießenund heil überstehen, denn umkehren oder anhalten kann man nicht.
Es ist dieses weite, leere Land, das mich zum Leichtsinn verführt, denkt Judith. Es ist, weil ich mich so lange in Köln verkrochen habe, in meiner Wohnung, meiner Musik, meiner Trauer. Aber natürlich ist das nicht wahr. Natürlich ist es David selbst. Er, sie, zwei Körper, zwei Menschen, zwei Fremde, die der Illusion erliegen, sie seien eins, geschaffen füreinander, Glück. Eine uralte Geschichte, eine uralte Sehnsucht, banal, tausendmal gehört, gelesen, im Kino beweint, im Freundeskreis bestaunt, belächelt, gescheitert und trotzdem hier, in diesem Moment, so unwiderstehlich, dass die Konzentration auf alles andere zum Kraftakt wird.
Judith hat versucht, Margery Cunningham zu erreichen, ihr von Atkinsons plötzlich verwaistem Cottage zu berichten und davon, dass sie mit David in die Wildnis fliegt und vielleicht – wenn es ihr gelingt, David dazu zu überreden – zu Charlotte. Aber auf der Polizeistation hieß es, Margery sei auf einem Einsatz, und am Mobiltelefon meldete sie sich nicht. Also ist Judith zu David ins Wasserflugzeug gestiegen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, was streng genommen gegen die Verabredung mit Margery ist und Judith gerade deshalb mit einem beinahe kindischen Gefühl von Freiheit erfüllt. Und wie lange hätte sie auf das Okay und eventuelle neue Erkenntnisse der kanadischen Kollegin warten sollen? Sie hat keine Zeit, zu warten, ihr bleiben noch 48 Stunden, um Charlotte zu finden, 48 Stunden mit David, dann muss sie nach Toronto fahren und ihr Flugzeug nach Deutschland erwischen, sonst kann sie ihren Neustart im KK 11 vergessen.
David ist der Schlüssel. Er hat schließlich nachgegeben und versprochen, Judith in die Nähe von Charlottes Quartier zu bringen, er wird als Bote fungieren, vielleicht kann sie ihn auch noch überreden, dass er sie direkt zu Charlotte führt. Charlotte, die einst Judiths Freundschaft suchte, die, wie Berthold schwört, noch immer große Stücke auf Judith hält, obwohl Judith sie verraten hat. Charlotte, die in ihrer Villa außer Kindheitsrelikten nur ein Gefühl von Verlorenheit zurückgelassen hat, Sehnsucht, die zu lange ins Leere gerichtetwar und darüber gestockt und übersäuert ist wie alte Milch. Wie soll Judith dieser Charlotte begegnen? Sie hat bislang nicht einmal darüber nachgedacht, weil sie nicht damit gerechnet hat, sie lebend zu finden, wird ihr bewusst. Charlotte ist eine zwar wortkarge, aber entschlossene Naturliebhaberin, die ihre Ruhe will und dafür Geld bezahlt, hat David gesagt. Vielleicht ist Judiths Bild also ein falsches Bild, vielleicht hat sie die falschen Schlüsse gezogen und ihr Mitleid mit Charlotte ist nichts anderes als Arroganz.
Sie überfliegen den Killarney Provincial Park und die
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