Unter dem Eis
nah, ein Gigant hinter Gittern. Güterzüge rumpeln, grüne Metallbänder auf Betonstelzen laufen scheinbar aus dem Nichts zu ihnen hin.
»Förderbänder«, erklärt Elisabeth Vogt.
Sie dirigiert Manni durch einen engen Tunnel, erneut überqueren sie den Fluss, links und rechts des geteerten Fahrwegs stehen nun Bäume.
»Hier«, flüstert die Frau nach einer Weile.
Zu Fuß führt sie ihn einen Trampelpfad hinunter in ein Wäldchen, das hier völlig fehl am Platz wirkt. Bis zum Kühlwasserfluss sind es vielleicht 200 Metern auf der anderen Seite liegt das Kraftwerk, und aus dieser seitlichen Perspektive erkennt Manni erst, wie riesig es ist, wie viele Kühltürme es hat.
Die alte Frau an seiner Seite beachtet das Kraftwerk nicht. Sie verlässt den Trampelpfad und führt Manni Schritt fürSchritt zwischen den Bäumen hindurch, vorsichtig tastend, als suche sie für jeden ihrer Schritte einen Halt, den es nicht gibt. Schließlich bleibt sie vor einer Stelle stehen, wo die Erde frisch gelockert aussieht.
»Hier«, murmelt sie wieder. »Hier habe ich den Dackel gefunden. Hier habe ich ihn begraben.«
Manni sieht sich um. Junge Bäume und eine alte Frau, die Mühe hat zu laufen und sich dennoch soldatisch aufrecht zu halten sucht, mit dunklen Schweißflecken im Kleid. Nichts ist sonst zu sehen, nicht der Fahrweg, nicht das Kraftwerk. Nur bröckelige, lockere Erde und eine Zeugin mit Angst im faltigen Gesicht.
»Wann haben Sie den Dackel gefunden?«
»Sonntag früh. Ich konnte nicht schlafen, da bin ich spazieren gegangen. Es war etwa fünf.«
Am Sonntagmorgen war der Dackel schon tot. Das kann bedeuten, dass sie seit bald einer Woche in einem Mordfall ermitteln, ohne eine Leiche zu haben. Es kann sogar bedeuten, dass auch Jonny irgendwo hier in diesem Wäldchen liegt. Manni braucht die Spurensicherung, die Hundestaffel, die Sucherei geht von vorne los, diesmal in Frimmersdorf. Er wählt die entsprechenden Nummern, beschreibt den Weg. Elisabeth Vogt beobachtet ihn, wachsam wie ein in die Enge getriebenes Tier. Manni steckt das Handy wieder in die Hosentasche.
»Und Sie sind einfach so hier in dieses Wäldchen gelaufen und da lag der Dackel?«
»Ich bin dann noch mal wiedergekommen und habe ihn beerdigt, in dem alten Koffer. Ich konnte ihn doch nicht einfach so liegen lassen.«
»Und dann?«
»Dann kamen die Berichte in der Zeitung. Von dem Jungen und seinem Hund. Es gab keinen Zweifel, dass das mein Dackel war. Ihm fehlte doch das Ohr.«
»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«
Schweißperlen auf ihrer Stirn, Wasser in ihren Augen. »Ich bin doch nur eine alte Frau, sie hätten mir vielleicht nicht geglaubt.«
»Wir hätten das leicht überprüfen können.«
»Ich …«
»Also haben Sie den Koffer vorgestern Nacht wieder ausgegraben und vor die Kirche gelegt.«
»Ich wollte ja nur helfen.«
»Sie helfen uns am allermeisten, wenn Sie die Wahrheit sagen.«
Die Frau schwankt leicht und sieht jetzt sehr blass aus. Blasser als blass.
»Haben Sie hier außer dem Dackel noch etwas gesehen, was Ihnen komisch vorkam? Verdächtig? Sind Sie jemandem begegnet?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Trug der Dackel ein Halsband, als Sie ihn fanden?«
Kopfschütteln. All diese Fragen, auf die er keine Antwort bekommt, jedenfalls keine vollständige, manchmal ist er es wirklich leid. Fliegen summen. Elisabeth Vogt sieht jetzt wirklich krank aus. Er fasst sie am Ellenbogen, bugsiert sie zurück zu seinem Wagen. Das, was er von ihr wissen muss, kann sie ihm auch in ihrem Haus erzählen. Was er jetzt wirklich nicht gebrauchen kann, ist eine Zeugin mit Kreislaufkollaps, denn auch wenn er überzeugt ist, dass sie ihm etwas verschweigt, so scheint es doch mehr als unwahrscheinlich, dass Elisabeth Vogt Jonny oder Jonnys Hund etwas zu Leide getan hat. Kein Grund also, den Ortstermin in die Länge zu ziehen. Andere Fragen sind jetzt auch vordringlicher. Wie ist der Dackel nach Frimmersdorf gekommen? Gibt es Zeugen, die in der Nacht von Samstag auf Sonntag ein Fahrzeug bemerkt haben oder sogar verdächtige Personen? Und wieso Frimmersdorf und dieses Wäldchen – der Fundort spricht eindeutig dafür, dass der Täter Ortskenntnis haben muss, denn auch wenn Köln nur etwa 40 Kilometer entfernt liegt, verirrt sich keiner aus Zufall hierher. Doch bislang können sie für niemanden aus Jonnys Umfeld eine Verbindung mit diesem Kaff am Rande des Braunkohletagebaufördergebiets Garzweiler-Süd nachweisen.
Elisabeth Vogt will ganz
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