Unter dem Eis
offensichtlich nicht, dass er sie bis in ihr Haus begleitet. Er lässt ihr keine Wahl, bittet darum, die Toilette benutzen zu dürfen und um ein Glas Wasser. Siegibt sich geschlagen, schiebt den Schlüssel ins Schloss. Augenblicklich ertönt von innen Hundegebell.
»Sie haben mir gar nicht gesagt, dass Sie einen Hund haben.«
Statt ihm eine Antwort zu geben, fällt sie um. Manni kann gerade noch verhindern, dass ihr Kopf auf den Steinboden schlägt.
Keine Insel, nicht die Spur eines Menschen, kein Mobilfunknetz. Nichts als Nadelbäume, Felsen, Wasser, Sonne und Stille, die nur hin und wieder vom Schrei eines Eistauchers durchbrochen wird. Judith lenkt das Kanu ans Ufer und zieht es auf einen glatten Felsen, der die Farbe gebleichter Knochen hat. Sie ist schweißgebadet, Arme, Rücken und Knie protestieren schmerzhaft gegen die ungewohnte Beanspruchung. Das Wasser habe Trinkwasserqualität, hat David gesagt, ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Sie trinkt aus dem See, zieht sich aus, taucht hinein und lässt sich treiben, bis sie sich abgekühlt hat. Vor nicht einmal einer Woche saß sie in Köln in ihrer Ente und hat von einem Waldsee geträumt, während sie vor Charlottes Haus auf Berthold Prätorius wartete. Ihr Instinkt hat sie gewarnt, sie hätte darauf hören sollen, Gas geben, abhauen, solange sie noch konnte. Stattdessen hat sie sich in eine alte Geschichte hineinziehen lassen, aus einem alten Schuldgefühl heraus, das sie längst vergessen hatte, und der See, den sie fand, entpuppt sich als Falle.
Noch einmal studiert sie die Landkarte. Der See ist viele Kilometer lang, leicht nierenförmig gekrümmt, so dass sie keine Weitsicht hat. Sie weiß nicht, wie viele Kilometer sie in einer Stunde zurückgelegt hat, aber David hat behauptet, Charlottes Lager liege in der Nähe seiner Blockhütte. Wenn das nicht gelogen war und das Kreuz den Standort markieren soll, ist sie in die falsche Richtung gepaddelt.
Der Weg zurück erscheint ihr doppelt so lang. Endlich passiert sie Davids Blockhütte, die noch genauso daliegt, wie sie sie am Morgen verlassen hat. Kein Wasserflugzeug liegt amSteg, und einen winzigen Augenblick ist sie deshalb enttäuscht und muss sich eingestehen, dass sie sich wider besseres Wissen immer noch nach einem Happy End sehnt. Nach David, der zurückkommt mit einer Erklärung, vielleicht auch einfach nur mit einer Flasche Sekt.
Die Wut, gegen ihren Willen festzusitzen und sich das selbst eingebrockt zu haben, treibt sie voran und lässt sie das Brennen in ihrer rechten Hand, wo sich eine Blase bildet, ignorieren. Eine Dreiviertelstunde später sieht sie die Insel, eine dunkel bewaldete Erhebung im Wasser. Sie hält darauf zu und wenig später entdeckt sie auch das grüne Zelt. Der Insel gegenüber unter einer Kiefer, am Rande einer steinernen Bucht, genau wie es auf der Landkarte markiert ist. Ein rotes Kanu liegt umgedreht auf den Felsen, es gibt eine Feuerstelle, daneben einen Baumstamm zum Sitzen und etwas entfernt in einem Baum einen Vorratssack. Trotzdem wirkt das Lager verlassen.
Judith zieht ihr Kanu an Land und überwindet den Drang, sich einfach auf den von einem Bett trockener Nadeln federnden Boden fallen zu lassen. Sie schöpft sich Wasser ins Gesicht, füllt einen Becher und trinkt. Dann klemmt sie das Jagdgewehr unter den Arm und nähert sich der Feuerstelle. Verkohlte Holzreste, kalt, die Asche ist verflogen. Sie ruft Charlottes Namen. Ihre Stimme verhallt über dem Wasser, wird verschluckt von einem Wald, der zu lauschen scheint, als ob die Lebewesen darin schon lange keinen Menschen mehr gesehen hätten und nun erstaunt den Atem anhalten würden, während sie Judith beobachten.
Im Vorzelt findet sie ein Paar solide Wanderschuhe in Größe 42 und einen Campingkocher. Im Zelt selbst liegen mehrere Plastiktüten mit Wäsche, Socken, Outdoorbekleidung und Damenhygieneartikeln. Ein Schlafsack liegt daneben, eine Schwimmweste für Kanuten, eine Taschenlampe und eine Gaslaterne, ein Stapel teils deutschsprachiger Vogelkundebücher und ein Fernglas. In einem der Bücher weist ein Stempel den Besitzer als Professor Wilhelm Simonis aus. Judith nimmt das Fernglas an sich und kriecht wieder ins Freie. Sie ist nun sehr sicher, Charlottes Lager gefunden zu haben. Nichts siehthier so aus, als sei die Bewohnerin abgereist, und doch ist sie verschwunden.
Judith lädt das Gewehr durch und schießt in die Luft. Dann noch einmal. Wenn Charlotte in Hörweite ist, wenn
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