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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Wald hinter dem Blockhaus nicht nur Elche und Waschbären, sondern auch Braunbären leben, sorgt dafür, dass sie sich entblößt fühlt, wie leichte Beute. Braunbären sind sehr scheu, sie greifen Menschen höchstens an, wenn sie sich oder ihren Nachwuchs bedroht sehen, hat David gesagt. Was findet ein Braunbär bedrohlich?
    Sie sitzt hier fest, allein in der Wildnis, und außer David weiß niemand, wo sie ist. Weil sie es eilig hatte, weil sie ihm vertraut hat, weil sie blöd war. Weil sie die Warnung der Polizistin Margery Cunningham überhörte und nicht einmal ihr eine Nachricht hinterlassen hat, wohin und mit wem sie unterwegs ist. Stark hat sie sich gefühlt, siegesgewiss, sicher, dass David sie zu Charlotte führen wird. Versessen auf jede Minute mit ihm. Blind ist sie gewesen. Wie lange wird es dauern, bis Margery nach ihr sucht? Wird sie überhaupt suchen? Kaffee und Nikotin legen sich als bitterer Belag auf Judiths Zunge. Sie ist zu wütend, um zu weinen. Oder zu verletzt. Roh kommt sie sich vor. Gehäutet. Filetiert. Vermutlich steht sie unter Schock.
    Sie schraubt die Canadian-Club-Flasche auf und nimmt einen Schluck, dann noch einen, den sie als Mundwasser benutzt und wieder ausspuckt. Das Brennen des Alkohols ist geradezu eine Erleichterung. Sie verschließt die Flasche wieder, breitet die Landkarte aus. Zu Fuß durch die Nadelwälder hat sie keine Chance, aber vielleicht gibt es einen Weg mit dem Kanu. Zumindest kann sie ausprobieren, ob ihr Handy auf dem See Empfang hat. Ob es noch weitere Blockhütten an diesem See gibt, Menschen mit Funkgeräten und Ortskenntnis, die ihr weiterhelfen können. Sie studiert die auf der Landkarte mit dem Kreuz markierte Bucht. Im Blau davor liegt eine Insel. Vor ihr, in der Realität, gibt es diese Insel nicht. Stattdessen entdeckt sie einen Eistaucher, der aussieht, als wolle er übers Wasser laufen. Mit wild schlagenden Schwingen pflügt er sich eine Bahn, hebt schließlich schwerfällig ab und verschwindet über den Bäumen.
    Judith konzentriert sich wieder auf die Landkarte. Wenn es diese Insel gar nicht gibt, ist die Karte wertlos, dann kann sie sich nicht orientieren. Doch irgendeinen Sinn muss die Karte ja haben. Beinahe wie auf einer Schnitzeljagd kommt sie sich vor. Schon als Kind hat sie solche Spielchen gehasst. Morgen, hat David versprochen, und sie hat keinen Zweifel gehabt, dass er sie zu Charlotte bringen wird, dass er die Wahrheit sagt, nicht den geringsten Zweifel. Sie hat ihm vertraut. Sie hat ihn geliebt. Sie hat es versäumt, ihn nach dem Grund für diese Traurigkeit zu fragen, die sie in seinen Augen zu lesen glaubte. Traurigkeit oder etwas Dunkleres? Jetzt ist es müßig, darüber zu spekulieren. Jetzt muss sie handeln. Vielleicht hat David ja zumindest in Bezug auf Charlotte die Wahrheit gesagt. Vielleicht markiert das Kreuz auf der Karte Charlottes Lager, vielleicht liegt diese Insel ganz in der Nähe, vielleicht wird Judith Charlotte finden.
    Sie löscht das Feuer und lädt ihr Gepäck, den Schlafsack, die Dosengerichte, den Whiskey und die Äpfel ins Kanu. Den Rest der Vorräte zieht sie wieder in den Baum, sie will nichts bei sich haben, das tierische Besucher anlocken könnte. Im letzten Moment nimmt sie in der Hütte einen alten Strohhut vom Haken, weil ihr einfällt, dass die Sonnenstrahlung aufdem Wasser intensiv sein wird. Sie verschließt die Hütte und zieht das Kanu ins Wasser. Neben den Steg, auf dem sie gestern beinahe vergessen hätte, dass Glück fragil ist, niemals von Dauer. Das Kanu schwankt beim Einsteigen, und es dauert eine Weile, bis sie mit dem Paddel zurechtkommt. Auf einmal fällt ihr die Digitalkamera ein, die sie in Köln extra für diese Reise gekauft und dann seit ihrer Ankunft in Kanada komplett vergessen hat. Jetzt kramt sie sie hervor und fotografiert den Steg und die Blockhütte. Nostalgie oder Beweisaufnahme, vielleicht auch beides. Sie wendet das Kanu und treibt es mit harten, wütenden Schlägen vom Ufer weg.
    Sie ist vertrauensselig gewesen, leichtsinnig, gefühlsduselig. Sie hat sich täuschen lassen. Aber kampflos geschlagen geben wird sie sich nicht.

    Sehr aufrecht sitzt Elisabeth Vogt neben ihm. Eine Gefangene, die Haltung bewahrt und mit knappen Gesten den Weg weist. Durch enge Straßen aus dem Dorf hinaus, über eine Brücke, vorbei an einem Sportlerheim und einem von hohen Fichten umstandenen Hundeübungsplatz. Unmittelbar daneben liegt ein Stromumspannwerk, das Kraftwerk Frimmersdorf ist jetzt ganz

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