Unter dem Eis
irgendjemand in Hörweite ist, soll er wissen, dass sie da ist. Sie tritt ans Wasser, betrachtet durchs Fernglas die umliegenden Ufer und die Insel. Keine Bewegung, nichts. Nur grüne Stille. Judiths Verlangen nach Schlaf wird beinahe übermächtig. Schlafen und vergessen: die sinnlose Suche, die Zeit, die gegen sie arbeitet. Und David. Seine Berührungen, wie er sie angesehen und gehalten hat, weich werden ließ, viel zu weich. Sie schwimmt noch einmal, öffnet eine Dose Nudeln in Tomatensoße, löffelt sie kalt, isst einen Apfel, raucht eine Zigarette. Ein Eistaucherpärchen schwimmt in Sicht, taucht ab, taucht wieder auf. Sie beobachtet sie durchs Fernglas, die spitzen Schnäbel, die runden Augen, in denen keine Wärme ist, nur kaltes Feuer.
Die Lebewesen im Wald haben sich nun offensichtlich an ihre Anwesenheit gewöhnt, überall piept, raschelt und surrt es. Es riecht nach vermoderndem Laub und Harz. Etwa 200 Meter hinter dem Zelt findet sie eine Holzkiste, die als Donnerbalken dient, eine Rolle Toilettenpapier klemmt unter dem Deckel. Ist es das, was Charlotte gewollt hat? Keine Menschen mehr, keinen Komfort? Hat sie das wirklich aushalten können, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche? Sonnenlicht fällt jetzt auf den Vorratssack in den Bäumen, wahrscheinlich liegt es daran, dass Judith nun erst die Insekten bemerkt. Eine schwarz wabernde Wolke, die den Sack umschwirrt, aufstiebt, sofort zurückkehrt, an der Kunststoffhaut klebt, nicht ablässt, einzudringen versucht.
Langsam bewegt sich Judith darauf zu. Das Seil ist rau in ihren wundgescheuerten Händen, der Knoten zu fest, um ihn zu lösen. Es dauert lange, bis sie das Seil mit dem Taschenmesser durchtrennt hat, dann kann sie es nicht mehr halten und der Sack prallt auf den Boden, mit einem satten, schmatzenden Geräusch. Augenblicklich sind die Insekten wieder da, und jetzt versteht Judith, was sie so rasend macht. Es stinkt widerlich. Vergoren, verdorben. Mit angehaltenem Atem öffnet sie den Sack. Irgendwann waren die Lebensmittel darin sicher genießbar. Doch das ist schon lange her.
Sie schaukeln. Sie spielen Fangen. Sie spielen Ball. Insgeheim hat Martina immer davon geträumt, Schauspielerin zu sein, aber sie war nicht talentiert genug, keine der Theaterschulen hat sie angenommen, also hat sie nach dem Sozialpädagogikstudium in Laiengruppen gespielt und für die Kinder Theaterprojekte geleitet, doch nie war sie so gefordert wie heute. Jede einzelne Geste, jedes Wort, jedes Lachen ist ein Kraftakt und muss doch echt wirken, natürlich, weil das wichtig ist für Lene und Leander und wahrscheinlich auch für sie selbst. Wichtig. Überlebenswichtig.
Frank hat sich nicht gemeldet und auf seinem Handy erreicht sie ihn nicht. Er muss nachts zurückgekommen sein und ein paar Stunden auf dem Wohnzimmersofa geschlafen haben, doch als sie aufstand, war er schon wieder fort, vielleicht in der Firma, vielleicht bei seinen Eltern. Sind Sie sicher, dass Sie Ihrem Mann vertrauen können? Ja, will sie schreien, ja, ja, ja. Aber während die Kinder mittags schliefen, hat sie nochmals Franks Schubladen durchsucht.
Als der Nachmittag fortschreitet, hält sie es nicht mehr aus und setzt Lene und Leander in den Bollerwagen. Sie protestieren lauthals, wollen lieber mit Roller und Fahrrad fahren, aber Martina setzt sich durch, denn sie hat es plötzlich eilig. Sie besticht die beiden mit Eiswaffeln und dem Versprechen, dass sie Papa abholen und danach unter dem Rasensprenger rumtollen dürfen.
Am Gemeindezentrum klebt ein Schild: »Männergesprächskreis, heute im Garten hinter dem Haus«. Sie setzt sich mit Lene und Leander auf die Bank neben dem Eingang. Jetzt ist sie ganz ruhig. Sie wird sich bei Frank für ihr Misstrauen entschuldigen, sie werden nach Hause fahren, und wenn die Kinder im Bett sind, werden sie reden. Bestimmt gibt es eine plausible Erklärung für die 20000 Euro. Und dafür, wo er am Samstagnachmittag war. Die ersten Männer kommen um dieEcke, in Zweier- und Dreiergruppen. Sie legt die Arme um Lene und Leander. »Gleich«, sagt sie, »gleich.« Aber dann kommt niemand mehr, und sie rennen ums Haus in den Garten, der nach Geißblatt und Rosen duftet, aber dort ist nur der Pfarrer, der die Sitzkissen von den Stühlen zu einem ordentlichen Stapel häuft. Ein Mann um die 40 , in Jeans und T-Shirt, ein Mann, den sie beide sofort sympathisch fanden, als er Frank zu seinem Vätergesprächskreis einlud, damals, als sie Jonny zu sich nahmen und
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