Unter dem Eis
glaubte er, das tiefe Bellen eines Hundes zu hören, doch nun ist es still, kein Hund ist zu sehen. Er reicht der Frau seinen Ausweis. Sie mustert ihn genau, mit weitsichtigen Augen.
»Meine Tochter hat mich angerufen, Sie kommen wegen des Koffers.« Sie gibt ihm den Ausweis zurück, dreht sich um, schreitet voran ins verdunkelte Innere ihres Hauses. Ihr glattes weißes Haar ist im Nacken zu einem Knoten gewunden. Sie hält sich sehr aufrecht, auch wenn man sehen kann, dass ihr das Gehen Mühe macht. Manni folgt ihr in eine Wohnküche, in der es nach Hund riecht, obwohl er immer noch keine Spur eines Vierbeiners entdecken kann.
Die alte Frau nimmt einen blau lasierten Tonkrug, füllt ihn über dem Spülstein mit kaltem Leitungswasser, stellt zwei Gläser auf den Tisch und schenkt ein.
»Der Kinderkoffer Ihrer Tochter ist unsere heißeste Spur zu einem Jungen, der verschwunden ist. Seine Eltern sind verzweifelt, der Junge schwebt vielleicht in größter Gefahr. Wir müssen wirklich sehr dringend herausfinden, wie der Koffer mit dem toten Dackel des Jungen vor die Frimmersdorfer Kirche gelangt ist«, erklärt Manni.
»Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe den Koffer auf den Sperrmüll getan.«
»Wann?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Hatten Sie den Sperrmülldienst denn bestellt? So etwas lässt sich ja bei der Gemeinde überprüfen.«
Elisabeth Vogt greift nach ihrem Wasserglas. Sie sieht jetzt unwohl aus. Ihre Hand zittert leicht. Weil sie alt ist oder weilsie etwas zu verbergen versucht? Er hat keine Ahnung, er weiß es nicht, er weiß nicht, was er als Nächstes fragen soll, weiß nur, dass er wirklich sehr dringend Jonny Röbel finden will, ob tot oder lebendig.
Manni steht auf. Elisabeth Vogt beobachtet ihn stumm. Von der Küche führt eine Tür in den Garten. Manni tritt auf eine holprig gepflasterte Terrasse. Ein großer Garten mit Blumenrabatten, Gemüsebeeten und knorrigen Obstbäumen liegt vor ihm. Ein nicht einsehbarer Garten. Das Nachbarhaus steht offensichtlich leer, seine Fenster sind vernagelt, das Grundstück ist verwildert. Auf der anderen Seite gibt es keine Nachbarn. Am Horizont dümpeln Kraftwerkwolken, das rhythmische Tuten einer Werkssirene ist zu hören, das geschäftige Summen von Insekten. Neben der Terrasse lehnen Gartengeräte an der Hauswand. Harke, Spaten, Schaufel. Erdreste kleben daran. Manni betrachtet die Beete. Sie sehen nicht so aus, als seien sie in letzter Zeit umgegraben worden, aber was versteht er schon davon.
Er geht zurück in die Küche. Elisabeth Vogt sitzt noch genauso da, wie er sie verlassen hat. Eine steife Gestalt in einem blauweiß gemusterten Kleid, die schwach nach 4711 riecht. Manni trinkt sein Wasser aus.
»Sie haben also keinen Sperrmülldienst bestellt. Was glauben Sie, was passiert, wenn unsere Kriminaltechniker die Erdreste, die sich an dem Koffer Ihrer Tochter befinden, mit denen an Ihren Gartengeräten und Bodenproben aus Ihrem Garten vergleichen?«
Sie sitzt einfach da und antwortet nicht. In ihren Augenwinkeln schimmern Tränen.
»Frau Vogt? Hören Sie mich? Was glauben Sie, was dann passiert?«
Statt eine Antwort zu geben, stemmt sie sich hoch.
»Haben Sie einen Wagen?« Ihre Stimme ist brüchig und trotzdem beherrscht.
»Kommen Sie mit, ich bringe Sie hin«, sagt Elisabeth Vogt.
Die gebackenen Bohnen, die sie zum Frühstück gegessen hat, scheinen in ihrem Magen ein Eigenleben zu entwickeln. Judith dreht sich noch eine Zigarette. Sie hat entschieden zu viel geraucht in den letzten zwei Stunden, die Zigarette schmeckt nicht, aber im Moment ist ihr das egal. Die letzte Möglichkeit, wo David eine Nachricht an sie versteckt haben könnte, war der Plastiksack mit den Vorräten, den er, in einigem Abstand zur Feuerstelle, über Nacht mit einer improvisierten Seilwinde in einen Baum gezogen hat – zur Sicherheit, wegen der Bären. Judith hängt sich das geladene Jagdgewehr über die Schulter und lässt den Proviantsack herunter. Keine Nachricht, nur zwei Pakete Pumpernickel, Kaffee, Teebeutel, Käse, Nudeln, ein Plastikbehälter mit Tomatensoße, Äpfel und eine Flasche Canadian Club Whiskey. Verhungern wird sie also vorläufig nicht und abends kann sie sich betrinken, vielleicht sollte sie damit gar nicht bis zum Abend warten.
Sie geht hinunter zum See und spült die Töpfe sauber. Das Jagdgewehr legt sie griffbereit neben sich. Seit David fort ist, erscheint ihr die Natur überhaupt nicht mehr romantisch – das Wissen, dass in dem
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