Unter dem Eis
bezwecken und vor allem: Wo ist David, wenn nicht im Cockpit seines Flugzeugs? Das ergibt keinen Sinn. Das Motorengeräusch verklingt, plötzlich ist gar nichts mehr zu hören, nicht einmal der Ruf eines Tiers. Stille hüllt Judith ein, diese ganz besondere Stille, die es nur gibt, wo weit und breit Natur regiert.
Sie sieht sich um. Die kleine Lichtung zwischen Blockhütte und Ufer ist leer. David muss das Feuer neu entfacht haben, Qualm steigt auf, ein Blechkessel steht auf einem Rost in der Glut, frisch gebrühter Kaffee ist darin, heiß. Das Kanu haben sie in der Nacht aufs Land gezogen. Auf seinem Boden liegt eine kanadische Eindollarmünze, ein loony. Glücksbringer hat David die gestern genannt. Na wunderbar.
In der Blockhütte fehlt Davids Tasche. Der kleine Rucksack mit den wenigen Dingen, die Judith selbst mitgebracht hat, liegt auf dem Boden. Sie schaltet ihr Handy an. Keine Nachricht. Kein Empfang. Kein Verbindungsaufbau möglich. Die Schlafstelle, Holzbänke, ein grob gezimmerter Tisch, ein paar Regale – es ist schwer, hier etwas zu verstecken. Trotzdem durchsucht Judith die Blockhütte systematisch. Unter dem Bett findet sie eine Landkarte. Sie faltet sie auseinander. Die Blockhütte ist mit einem Kreuz markiert, zumindest nimmt sie an, dass das Kreuz ihr Standort sein soll. Rundherum gibt es sehr lange nichts, keine Ansiedlung, keine Straßen, nur blaue Flecken in Grün, die im Westen nach schätzungsweise 30 Kilometern zum Killarney Provincial Park werden. Judith leert ihren Rucksack aus, fasst nacheinander in alle Seitentaschen. Keine Nachricht von David. Keine Erklärung. Nichts. Bleibt noch der Wandschrank, der mit einem Vorhängeschloss verriegelt ist. Mit Hilfe ihres Taschenmessers bricht Judith ihn auf. Ein Jagdgewehr befindet sich darin, eine Packung Schrotpatronen und mehrere Dosen mit Fertiggerichten.
Jetzt erst merkt sie, dass sie friert. Sie zieht ihre Hose und eine Fleecejacke an, hängt das Jagdgewehr über die Schulter und geht hinaus ans Feuer, wo sie sich einen Becher mit Kaffee eingießt und die Hände darumlegt. Es ist noch früh, vor sechs Uhr. Nur allmählich mischt sich ins Grau über dem See ein Streifen rötliches Licht. Vielleicht will David bloß etwas erledigen, wollte sie nicht wecken, kommt bald zurück. Judith trinkt den bitteren schwarzen Kaffee in kleinen Schlucken. Das Frieren lässt nach, die Kälte bleibt. Sie weiß, dass David nicht zurückkommen wird. Trips to the Wilderness, was für eine Ironie. Er hat sie in der Wildnis ausgesetzt, aus welchem Grund auch immer. Sie hat sich blenden lassen, ihr Körper hat sie betrogen, sie hat vertraut, wo sie nicht hätte vertrauen dürfen, und deshalb hat die Suche nach Charlotte ein frühzeitiges, groteskes Ende genommen. Ein Ende, das sie ihren Job im KK 11 kosten wird. Es sei denn, sie schafft es, in 48 Stunden in Toronto zu sein. Realistisch gesehen hat sie keine Chance.
Die B 59 ist mit Abstand die hässlichste Bundesstraße, an die Manni sich erinnern kann. Schnurgerade zerschneidet sie eine auf Effizienz getrimmte Agrarlandschaft, der nichts Natürliches geblieben ist. Überlandstromleitungen spannen sich darüber, riesig im Vergleich zu den Häusern, die Manni passiert. »Bundeshauptstadt der Energie«, steht auf einem Schild am Ortseingang von Grevenbroich, in schwarz-rot-goldenen Lettern. Aus den Feldern zur Linken der Landstraße stemmen sich die Braunkohlekraftwerke in den Himmel. Grobe Klötze, aus deren Schornsteinen und Kühltürmen Dampf bläht, ein nicht enden wollendes Gewölk, so zäh, dass es neben den Kraftwerken zunächst Richtung Erde wabert, bevor es doch noch in die Luft gehoben wird und zu weißlichen Kunstwattefahnen zerfranst, die am gleißenden Mittagshimmel die einzigen Wolken bilden. Die Klimaanlage des Vectra hat kapituliert. Die Luft, die durchs offene Fenster dringt, scheint zu brennen und zugleich die Poren zu verkleben. Aus der nocheinigermaßen erträglichen, trockenen Hitze der letzten Tage ist Schwüle geworden, und eine Erlösung ist nicht in Sicht, so wenig wie im Fall Jonny Röbel.
Elisabeth Vogt, die Manni nach mehrfachem Klingeln sehr zögerlich die Haustür öffnet und zu ihm aufsieht, wirkt keineswegs verwirrt und ist trotz ihres betagten Alters eine schöne Frau, ganz anders als ihre verkniffen wirkende Tochter. Manni begegnet hellen, wachsamen Augen, registriert viele Falten, ein klares Profil mit gerader Nase und sanft geschwungenen Lippen. Nach dem ersten Klingeln
Weitere Kostenlose Bücher