Unter dem Georgskreuz
Das, was das Tageslicht mit sich bringen würde, war irgendwie zweitrangig. Er hörte das trommelnde Vibrieren des Riggs, das gelegentliche Quietschen eines Blocks, und wußte, wie sich das Schiff im Wind überlegte.
Tyacke würde die Lage wahrscheinlich ganz anders beurteilen, doch dabei dieselbe Absicht haben. Wie oft hatte das Schiff Augenblicke wie diesen erlebt? Sie war sechs- unddreißig Jahre alt, und die Liste ihrer Schlachten las sich wie ein Geschichtsbuch: Chesapeake, die Saintes, vor Alexandrien und Kopenhagen. Schmerz und Tod so vieler Männer. Er dachte an Tyackes Stolz auf das Schiff, das er nie führen wollte und den er mit Mühe verbarg.
Und sie ist nie geschlagen worden.
Plötzlich fragte Bolitho: »Ihr Gehilfe, George – Mr. Midshipman Carleton. Macht der sich gut?«
Avery blickte schnell zu Tyacke hinüber, der nur ein winziges Lächeln zeigte, nicht mehr.
»Ja, Sir. Mit seinen Signalgasten arbeitet er gut. Er hofft auf Beförderung. Er ist jetzt siebzehn!« Die Frage hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. Man wußte nie, was Bolitho als nächstes wissen wollte.
»Er ist verdammt viel leiser, als es Mr. Blythe jemals war«, meinte Tyacke.
Bolitho spürte, wie sich alle entspannten – außer Ozzard. Der wartete, bis er alles gehört hatte oder wußte. Dann würde er nach unten verschwinden, so tief im Rumpf wie irgend möglich, wenn die ersten Schüsse fielen. Eigentlich sollte er an Land hausen, dachte Bolitho, weit weg von diesem Leben. Aber er wußte natürlich auch, daß der Mann niemanden hatte, zu dem er zurückkehren konnte, niemanden hatte, der auf ihn wartete. Selbst in Cornwall, wo Ozzard in seinem Häuschen auf dem Gut lebte, blieb er vor allem allein.
Bolitho sagte: »Der junge Carleton sollte in den Ausguck.« Er zog seine Uhr hervor und klappte den Deckel auf.
Tyacke las seine Gedanken. »Nicht mehr ganz eine Stunde, Sir!«
Bolitho blickte in seine leere Tasse und hörte, wie Ozzard erwartungsvoll sagte: »Ich könnte noch eine Kanne brühen, Sir Richard!«
»Ich glaube, damit warten wir besser.« Er wandte seinen Kopf in die Richtung, aus der er einen Mann lachen hörte, fast übertönt vom Zischeln der Seen. So eine Kleinigkeit. Doch er dachte an die vertrackte
Reaper
. Auf ihr hatte nie jemand gelacht. Er erinnerte sich, als sei es erst gestern gewesen. Tyacke hatte den aufgeblasenen Midshipman Blythe unter Deck mitgenommen, um die überquellenden Messen der Seeleute und Seesoldaten zu besuchen und um ihm das zu zeigen, was er ›die Stärke eines Schiffes‹ nannte. Das war vor dem Gefecht gewesen. Die gleiche Kraft war während des Kampfes spürbar gewesen. Er dachte an Alldays Trauer. Was für ein Preis… Er sagte: »Wenn wir kämpfen, geben wir immer unser Bestes.« Einen Augenblick schien ihm, als höre er eine fremde Stimme. »Aber wir dürfen nie die vergessen, die von uns abhängen. Sie haben keine andere Wahl!«
Tyacke griff nach seinem Hut. »Ich werde das Kombüsenfeuer rechtzeitig löschen lassen, Sir Richard!«
Aber Bolitho blickte Avery an. »Gehen Sie, und reden Sie mit Ihrem Mr. Carleton.« Er klappte den Deckel der Uhr zu, doch behielt sie in der Hand. »Informieren Sie jetzt alle, James. Heute wird es sehr heiß werden.«
Während Ozzard die Tassen einsammelte und alle anderen die Kajüte verließen, sagte Bolitho zu Allday: »Nun, alter Freund. Warum gerade hier, wirst du denken, ein winziger Fleck auf einem riesigen Ozean. Sind wir zum Kämpfen verdammt?«
Allday hielt den alten Säbel weit von sich und peilte mit den Augen über die Schneide.
»Wie immer, Sir Richard. So mußte es kommen. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.« Dann grinste er, wie er das früher immer getan hatte. »Wir werden gewinnen, koste es, was es wolle.« Er hielt inne, und der trotzige Humor war verflogen. »Es ist ja so, Sir Richard, wir beide haben zuviel zu verlieren.« Er ließ die Klinge zurück in die Scheide gleiten. »Gott steh dem bei, der uns das wegnehmen will.«
Bolitho trat an die Achterdecksreling und hielt sich fest, während er nach oben in den hochragenden Mast mit der eisenharten Leinwand blickte. Er hatte eine Gänsehaut, nicht wegen der kalten Morgenluft, sondern wegen des angeborenen Gespürs für Gefahr, die ihn nach einem ganzen Leben auf See immer noch überraschen konnte.
Die Segel schienen jetzt blasser, doch noch gab es keine Kimm. Die einzige Bewegung, die er durch das dichte Zickzack des Riggs und durch flappende Segel entdeckte und die
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