Unter dem Georgskreuz
Avery schloß die Tür und griff nach einem Kamm. Schlief Ozzard eigentlich nie?
Er setzte sich und grinste kummervoll. Vielleicht würde sie über ihn lachen – aber sich sicher auch an ihn erinnern. Vielleicht war er ein größerer Narr, als er dachte. Doch das würde er nie vergessen. Er lächelte.
Mister
Avery.
Kapitän James Tyacke betrat die Achterkajüte und entdeckte die vertrauten Gesichter. Seine Augen gewöhnten sich nach der Dunkelheit des Achterdecks, auf dem kaum mehr als die winzige Kompaßleuchte die Nacht durchdrungen hatte, schnell an das Licht.
Bolitho stand am Tisch, die Hände ausgebreitet auf einer Karte, Avery neben ihm. Yovell saß an einem kleineren Tisch mit der Feder über einigen Papieren. Ozzard bewegte sich nur gelegentlich, um ihre Tassen immer wieder mit Kaffee zu füllen, und blieb im übrigen, wie es seiner Art entsprach, unhörbar. Allenfalls verlagerte er sein Gewicht mal von dem einen auf den anderen Fuß und verriet so seine Gefühlsregungen.
Und vor der gewaltigen Fläche der Fenster mit dem kräftigen Glas stand Allday, in der Hand einen blanken Säbel, über dessen Klinge er ein Tuch langsam auf und ab bewegte. Tyacke hatte ihn das schon oft tun sehen. Bolithos Eiche – nur der Tod könnte sie trennen.
Tyacke verdrängte den Gedanken. »Alle Mann sind satt, Sir Richard. Ich bin durchs Schiff gegangen, um in Ruhe mit meinen Leuten zu reden.«
Er konnte also nicht viel geschlafen haben, überlegte Bolitho, und er war jetzt bereit zu neuen Taten, wenn sich sein Admiral nicht gänzlich irrte. Selbst diese Möglichkeit hatte er bedacht. Die Mannschaft war früh geweckt worden, doch »Klar Schiff zum Gefecht« war noch nicht befohlen worden. Es gab nichts Schlimmeres für die Kampfmoral, als enttäuscht zu erkennen, daß der Feind sie ausgetrickst oder ausmanövriert hatte und sie um sich nur leere See hatten.
Meine Leute.
Das war auch typisch für Tyacke. Er meinte damit das Rückgrat seiner Mannschaft, die Fachleute, seine Unteroffiziere, erfahren und klug wie Isaac York, der Master, wie Harry Duff, der Geschützmeister, und Sam Hockenhull, der breitgebaute Bootsmann. Männer, die schwer aufgestiegen waren wie der ungepflegte Commander der
Alfriston
.
Verglichen mit ihnen waren die Leutnants Amateure. Selbst Daubeny, der Erste Offizier, war jung für seinen Rang. Er hätte ihn auch noch längst nicht bekleidet, wenn sein Vorgänger nicht gefallen wäre. Dieses furchtbare Gefecht vor acht Monaten hatte ihn reifen lassen. Das schien ihn selber mehr zu überraschen als jeden anderen. Von den anderen war Blythe der jüngste, gerade eben vom Midshipman befördert. Er war eingebildet und seiner sehr sicher. Doch selbst Tyacke hatte seine anfängliche Ablehnung überwunden und gemeint, er verbessere sich. Langsam.
Laroche, den Dritten mit dem rosigen Schweinegesicht, hatte Tyacke einst fürchterlich abgekanzelt, als er eine Preßgang führte. Auch ihm fehlte Erfahrung – bis auf das Gefecht mit der
Unity
.
Tyacke berichtete: »Die Neuen haben sich gut eingelebt, Sir. Was die Neuschottländer angeht, die Freiwilligen – was bin ich froh, daß sie auf unserer Seite stehen und nicht auf der des Gegners.«
Bolitho blickte auf die Karte, die Tiefenangaben und Kalkulationen zwischen seinen Händen. Treffpunkte von Schiffen, das Denken wie der Feind – das alles war sinnlos, wenn bei Tagesanbruch nicht mehr zu sehen war als die leere Kimm.
York hatte mit dem Wind recht behalten. Er stand unverändert gleichmäßig aus Südwest durch, und das Schiff lag unter verkürzten Segeln in ihm gut beigedreht. Als er an Deck gewesen war, hatte er die Gischt wie Gespenster an der Leeseite und durch den Bugspriet mit dem drohenden, fauchenden Löwen hochsteigen sehen.
»Werden sie kämpfen oder fliehen, Sir Richard?« fragte Avery. Er sah die wachen grauen Augen des Admirals. Keine Spur von Müdigkeit oder Zweifeln. Bolitho war rasiert, und Avery fragte sich, was er und Allday wohl besprochen hatten, während der große Bootsführer sein Rasiermesser geführt hatte.
Sein Hemd steckte locker im Hosenbund. Avery hatte Silber von der Brust blitzen sehen, als Bolitho sich über den Tisch beugte: das Amulett, das er ständig trug.
Bolitho hob die Schultern: »Kämpfen. Wenn sie nicht gewendet haben und schon irgendeinen Hafen anlaufen, haben sie kaum eine andere Wahl, nehme ich an.« Er sah auf zu den Decksbalken. »Der Wind ist heute auf unserer Seite!«
Avery sah zu, fand Ruhe bei ihnen.
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