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Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Titel: Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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Vetorecht denn auch bei Eingebungen?»
    «Selbstverständlich.»

«Lasset die Kinder zu mir kommen,
    hindert sie nicht, denn so wie diese
    ist das Königreich Gottes.»
    EVANGELIST MARKUS
    24. Dezember, Heiligabend, um 23 Uhr
    Zustand: so was von gerührt. 
     
    A n den Weihnachtstagen neige ich generell und schon immer zur Maßlosigkeit. Und zwar sowohl beim Einsatz von Lichterketten, singenden Stoff-Elchen und Doris-Day-Christmas-Song-Samplern als auch beim Einsatz von überwältigenden Gefühlen wie Wehmut, Rührung und der Sehnsucht nach Schnee und einer Großfamilie.
    Als Einzelkind habe ich einen Hang zur Romantisierung solcher Familienfeste, an denen bei uns ja in der Regel nicht mehr als drei Leute teilnahmen.
    Wie meistens habe ich auch in diesem Jahr dafür gesorgt, dass wir uns für einen Weihnachtsbaum entscheiden, der sich von seinen Ausmaßen her eigentlich besser im Petersdom machen würde. Zarte Einwände meines Mannes, ob wir es nicht lieber mal mit einem kleineren Bäumchen versuchen sollten, das die Wohnzimmertür nicht nahezu vollständig versperrt, wurden von mir, ebenfalls wie jedes Jahr, einfach überhört.
    Alljährlich versuche ich mich wieder so auf Weihnachten zu freuen, wie ich es als Kind tat. Ich schmücke den Baumriesen, ich verpacke die Geschenke, ich höre meine alten Weihnachts-CDs, ich koche einen Großteil meiner Lieblingsspeisen und esse so viel Schokoladen-Weihnachtspasteten, wie ich will.
    Aber ich weiß nicht, wann es anfing, weniger zu werden. Ich freue mich nicht mehr wie ein Kind. Nicht auf Weihnachten, nicht auf die Ferien, nicht auf meinen Geburtstag. Ich fiebere nicht mehr wochenlang auf diese Ereignisse hin, und der Zauber, endlich, endlich, endlich am Morgen des Heiligen Abends oder des ersten Ferientages aufzuwachen, ist lange verflogen.
    Aber heute habe ich ihn zum ersten Mal seit langem wieder gespürt, den verwunschenen Glanz vergangener Weihnachten. Auch wenn die Umstände etwas ungünstig waren, da mein Mann sich gleich nach der Bescherung mit Schüttelfrost und Fieber ins Bett verabschiedete.
    Jetzt sitze ich hier allein, aber sehr zufrieden zwischen Geschenkpapieren und den knisternden Hüllen der verspeisten Schokoladen-Weihnachtspasteten und betrachte gerührt meinen Baum und meinen Bauch.

    Am nächsten Heiligen Abend werden wir zu dritt sein. Keine Großfamilie, aber immerhin eine Steigerung der Teilnehmerzahl um ein Drittel. Es werden wunderbare und weniger wunderbare Dinge und Gebräuche zurückkehren in unser Leben: Weihnachtsmann, Nikolaus, Osterhase, Topfschlagen, Plumpsack, Ponyreiten, Schultüte, Elternabende, Liebeskummer, Akne, Pfadfinder, Nachhilfe.
    Ich betrachte die Krippe aus Holz, die unter dem Weihnachtsbaum steht. Da steht sie jedes Jahr, schon solange ich denken kann. Ich habe nicht viel aus meinem Elternhaus behalten. Ein Nachthemd meiner Mutter, nicht schön, einen von meinem Vater gekneteten Elefanten, auch nicht schön, diese Krippe und eine kleine Truhe aus Rosenholz, in der ich einige Briefe und Dokumente aufbewahre, die an meine Eltern erinnern.
    Ich würde mich gerne mit meiner Mutter beraten. Wie waren ihre Schwangerschaft, die Geburt, wie war ich als Baby, hatte sie auch solche Ängste, und war Weihnachten nach meiner Geburt wieder so schön wie früher?
    Im April 1968 schrieb sie einen Brief an ihre Schwiegermutter. Ich war zweieinhalb Monate alt. Der Brief liegt nun, vergilbt, in der Rosenholztruhe.
    Heute Abend habe ich ihn nach sehr langer Zeit und mit ganz anderen Augen wieder einmal gelesen.
     
Meine liebe, liebe Mayka!
Wo soll ich anfangen, von unserer Ildikó zu erzählen? Es ist wohl nur für die Eltern alles so aufregend.
Über die letzten Phasen vor der Geburt ist nur eine Steigerung der unangenehmen Lage zu berichten, und eine halbe Stunde bevor das Kind kam, habe ich laut verkündet: «Wenn mir jetzt keiner hilft, steh ich auf und gehe nach Hause!»
Als man mir half, war es schon fast zu spät, denn ich schaffte es nicht mehr. Das Kind musste durch eine Vakuumextraktion geholt werden. Als die Gummipumpe das Baby ansaugte, machte es «plopp», und ich sah ein Kindchen, ein Mädchen, emporgehoben. Ich war aber so erschöpft, dass ich fast schon keiner Regung mehr fähig war.
In der nächsten halben Stunde wurde ich genäht, erfuhr, dass das Baby 4100 Gramm wiege und 54 Zentimeter lang sei, und hörte, wie der Chefarzt sie klapste, und die ersten Worte, die sie hörte, waren «Na, Dicke!», was mich aus irgendeinem

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