Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
zu früh zur musikalischen Grunderziehung bringen und ihnen überkandidelt teure Winterstiefelchen kaufen.
Im «Stern» stand:
In den typischen deutschen Unterschichtsvierteln leben die Armen heute in geräumigen Wohnungen mit Einbauküche, Mikrowelle, Waschmaschine, Spülmaschine, Handy, meist mehreren Fernsehern und Videorecordern. Das zeigen die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes. Die heutige Unterschicht leidet keine Not, wie sie in Romanen des 19. Jahrhunderts beschrieben wird. Und dennoch lebt sie im Elend.
Das Elend ist keine Armut im Portemonnaie, sondern die Armut im Geiste. Der Unterschicht fehlt es nicht an Geld, sondern an Bildung. In keinem OECD-Land, das hat der Pisa-Test gerade zum zweiten Mal gezeigt, werden Unterschichtskinder im Bildungssystem so skandalös benachteiligt wie in Deutschland. Einmal unten, immer unten.
Bislang glaubten Politik, Sozialwissenschaften und Gesellschaft: Die Lebensformen der Unterschicht und ihre Verhaltensweisen seien die Folge ihrer Armut. Genau das Gegenteil ist richtig: Die Armut ist eine Folge ihrer Verhaltensweise, eine Folge der Unterschichtskultur. In Deutschland sind nicht immer die Armen die Dummen, sondern die Dummen sind immer arm.
Vielleicht, denke ich beim Blick in die Wiege, werde ich etwas klüger und etwas erwachsener durch mein Kind.
So weit zu meinen lichten Momenten. Denn den größten Teil der Zeit verbringe ich im wattigen Nebel der Still-Amnesie und der Hormon-Blödheit.
Es ist mittlerweile fast nicht mehr möglich, sich normal mit mir zu unterhalten. Die gängigsten Worte fallen mir nicht ein. Mein Hirn ist träge und scheint sich allmählich in Muttermilch aufzulösen. Abends bin ich sowieso die Erste, die müde ist, und morgens hänge ich die Stunden, die nachts durchs Stillen verlorengehen, gerne dran.
Die Stimmung bei uns zu Hause ist also, freundlich gesagt, recht gemütlich und weitgehend frei von intellektuellen Aktivitäten.
Bald beginnt der PEKiP-Kurs. Ich hätte mal lieber einen Aufbaukurs «Denken für Mütter» buchen sollen.
Alles, was mich beschäftigt, ist mein Schlomenberger, so die jüngste Namensvariante. Sein Befinden, seine Laune, seine Exkremente. Und da man so ein Neugeborenes bei aller Liebe nicht gerade ein inspirierendes Gegenüber nennen kann, bin ich eben am totalverblöden. Ist mir aber auch egal.
Mein größtes Problem ist derzeit Schlomos wunder Po.
12. Juli
Ganz dick Creme drauf! Da sind sich alle Experten einig. Aber ansonsten habe ich in den letzten zehn Tagen so viele unterschiedliche Tipps zu beherzigen versucht, dass ich für meine Hausapotheke in absehbarer Zeit ein eigenes Zimmer brauche.
Ich habe mit Wundermitteln aus Übersee gearbeitet, Umschlägen mit fragwürdigen Inhalten und den Klassikern aus deutschen Apotheken. Der Po meines Babys ist allerdings immer noch wund.
Es ist ja schon mal per se nicht schön, wenn man allein nicht mehr weiterweiß. Aber schlimmer ist es noch, dem Rat von mehreren Experten ausgesetzt zu sein.
Wann immer in fröhlicher Runde das Thema auf Altersvorsorge, Krankenversicherung, Pflegeprodukte gegen vorzeitige Hautalterung, die Schulreform und den akkuraten Umgang mit Menschen unter einem Jahr kommt, werde ich einsilbig und nervös.
Denn ich gehöre nicht zu den Leuten, die davon überzeugt sind, es besser zu wissen. Das ist bedauerlich. Denn es kostet Geld und Nerven.
Wann immer ich beispielsweise einen Fachmarkt für Elektroartikel betrete und mich dort auf ein Expertengespräch einlasse, komme ich grundsätzlich mit einem Gerät heraus, von dem ich bisher nicht wusste, dass ich ohne es nicht leben konnte.
Beschämt denke ich an den Luftbefeuchter und die Wetterstation in meinem Keller, aber auch an die unzähligen, nicht zueinander passenden Töpfchen und Tiegelchen in meinem Bad. Sie sind Mahnmale meiner Willenlosigkeit und Manipulierbarkeit. Ich benutze ein Produkt immer genau so lange, bis mir jemand überzeugend genug sagt, dass es etwas Besseres gibt.
Fatal und ruinös sind Besuche in Parfümerien, in die ich bloß kurz reinhuschen will, um die Augencreme meines Vertrauens zu kaufen. Das geschulte Fachpersonal schaut mich dann kritisch und oftmals etwas mitleidig an und sagt betroffen so Sachen wie: «Oh, Sie haben aber sehr feuchtigkeitsarme Haut. Soll ich Ihnen da mal was empfehlen?» Oder: «Ich möchte Ihnen diesen Prospekt mitgeben. Ich denke, die Lektüre sind Sie sich und Ihrer Haut schuldig. Das ‹Age-Management-System› sollte
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