Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
zwar keine Kinder, aber zwei Königspudel, denen er selbst die Haare schneidet. Er kennt das Phänomen. Er sagt: «Meine Hunde sind auch bloß zu fremden Leuten nett. Ich bin nur gut zum Dosenaufmachen.»
Die Party beginnt mir zu gefallen, zumal ich die Mischung zwischen gluckenhafter Umklammerung meines Handys und der gleichzeitig betont lässigen und modernen Ausstrahlung «Ja, schon gut, ich habe mal eben ein Kind bekommen, aber das heißt ja nicht, dass mein Leben nicht genauso weitergehen kann wie bisher» ganz gut hinbekomme.
Mein erster Ausflug ins Nachtleben ist also recht erfolgreich – bis zu dem Moment, als eine Bekannte einen unbedachten Witz macht. Wäre ja lustig, meint sie, wenn, während ich hier so megacool rumstehe und auf die moderne Technik vertrauen würde, mein Telefon womöglich kein Netz hätte.
Har, har, lustig.
Nur zur Sicherheit werfe ich einen kurzen Blick aufs Display.
Kein Empfang!
Nie zuvor bin ich auf hohen Absätzen so schnell eine Treppe runtergerannt. Auf den Aufzug will ich nicht warten. Jede Mutter wird das verstehen. Erst vor dem Hauseingang ist mein Handy wieder empfangsbereit. Und piepst sofort los. Vier Kurznachrichten!
Mir bricht der kalte Schweiß aus. Kind in Hungersnot! Während sich die liederliche Mutter von fremden Männern ins zeitlich begrenzte Dekolleté glotzen lässt.
Das werde ich mir nie verzeihen!
Die Nachrichten sind alle vom Kindsvater, der sich, auf Dienstreise befindlich, Sorgen macht, warum er mich nicht erreichen kann, und es jetzt mal beim Patenonkel versuchen will.
Sekunden später das erlösende Gespräch: Baby schläft prächtig. Bloß der Onkel selbst war nicht zur Ruhe gekommen wegen der ständigen Anrufe der nervenschwachen Eltern.
So viel ist also schon mal klar: Natürlich hinterlässt eine zweistündige Trennung von der Mutter bleibende emotionale Schäden. Bei der Mutter.
Meinem Sohn ist es immer noch völlig egal, wo er pennt, aber ich kann seit diesem Abend nur noch einschlafen, wenn er meine Hand hält.
«Es gibt keine großen Entdeckungen
und Fortschritte, solange es
noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.»
ALBERT EINSTEIN
Im Juli
I ch lasse mein Kind nicht schreien. Ich käme überhaupt nicht auf die Idee. Ausnahmsweise habe ich diesbezüglich einen eindeutigen Instinkt, und der sagt mir: Einen Säugling kann man nicht verwöhnen oder verziehen. Seine Bedürfnisse sollen und müssen unverzüglich erfüllt werden, damit er weiß, dass er geliebt wird, dass die Welt gut und er nicht allein ist.
Für mein Kind ist Hunger eine Katastrophe. Ein Panikzustand des Körpers. Dasselbe gilt für Einsamkeit und für Angst. Mein Kind weiß noch nicht, dass man Hunger eine Weile lang aushalten und Einsamkeit eine Weile lang ertragen kann und dass er keine Angst zu haben braucht, weil seine Eltern doch gleich nebenan sind.
Ich will mein kleines Kind immer so schnell wie möglich von jeglichem Unwohlsein erlösen. Ein Neugeborenes darf nichts aushalten müssen, sonst kann es kein Urvertrauen entwickeln.
Ich habe heute von einem wenige Monate alten Jungen gelesen, der missbraucht wurde. Mich packt bei dieser Vorstellung ein ungeheuerliches Entsetzen, das mir die Kehle zuschnürt.
Natürlich habe ich mich immer schon interessiert für das Leid von Kindern. Und ich bin nicht stolz darauf zu sagen, dass dieses Leid erst durch mein eigenes Kind ein Gesicht bekommen hat.
In Deutschland prügeln fünfzehn Prozent der Eltern ihre Kinder. 1,42 Millionen Kinder werden misshandelt, 49 000 sexuell missbraucht. Die Dunkelziffer, so wird vermutet, liegt deutlich höher.
Und das sind nur die strafbaren Handlungen.
Ein Baby eine Nacht lang schreien zu lassen, ihm Zuwendung zu verweigern oder es die ersten Lebensjahre vor dem Fernseher zu parken, ist ja nicht verboten.
Ich mag keine perfekte Mutter sein. Natürlich nicht. Aber wenn ich auf meinen schlafenden Sohn schaue, denke ich trotzdem, dass er ein ungeheuerliches Glück gehabt hat, unser Sohn sein zu dürfen.
Ich las neulich über die chancenlosen Kinder in Deutschland, wie sie nur ein paar Kilometer entfernt von uns leben. Die soziale Stellung der Eltern beeinflusst die Schulleistungen der Kinder – und zwar in Deutschland so sehr wie in kaum einem anderen Land. Unterschicht ist bei uns quasi erblich. Pech gehabt.
Und was für ein unverdientes Glück für meinen Jungen, zwei Stadtteile weiter geboren worden zu sein, in dem das größte Problem die Mütter sind, die ihre Kinder
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