Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
gerade, und Gebete bleiben mir nach dem, was diesen Sommer geschah, sowieso im Halse stecken.
Dieser Sommer ging mir zu nah. Vielleicht, weil ich ein kleines Kind habe und mich verwundbarer und schutzbedürftiger fühle als je zuvor.
Vielleicht bedarf es aber auch eines gewissen Alters und des damit einhergehenden Verlusts an Naivität, um zu begreifen, dass angesichts des Weltgeschehens Gottvertrauen eine übermenschliche Leistung ist. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur ein Spätzünder. Seit diesem Sommer bin ich jedenfalls nicht mehr gut auf Gott zu sprechen.
Am zweiundzwanzigsten Juli diesen Jahres sitzt Schlomo um fünf Uhr nachmittags mit mir in der Badewanne. Zu dieser Zeit fallen die ersten Schüsse. Um halb sieben stille ich ihn, ziehe ihm seinen Schlafanzug an. Mein Sohn riecht nach Babyöl und Milch mit Honig.
Innerhalb dieser anderthalb Stunden werden auf einer norwegischen Ferieninsel neunundsechzig Jugendliche von einem Attentäter erschossen.
Um sieben Uhr bringe ich meinen Jungen ins Bett und spreche ein kurzes Kindergebet. «Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein …»
Um diese Zeit erfahren in Norwegen die ersten Mütter, dass ihre Gebete umsonst waren.
An den Tagen danach die Fotos: Kinder schwimmen in Todesangst von der Insel weg. Der Schütze zielt und richtet sie im Wasser hin. Dunkle Planen decken die Leichen nur unzureichend ab. Füße schauen hervor, die in hellen, knöchelhohen Turnschuhen stecken.
Seither fühle ich mich zu beschämt, um für meinen Sohn zu beten. Beschämt und betrogen. Es nutzt ja doch nichts.
Ich habe sogar den Pastor meiner Gemeinde angerufen, um mich persönlich bei ihm über Gott zu beschweren.
Der Mann ist ein kluger und menschenfreundlicher Fachmann in Sachen Glauben und Unglauben. Er sagte: «Die Bibel ist voll von Zweifel und Zorn und Ringen mit und um Gott. Man darf Gott in Gebeten auch anklagen, wenn einen das Entsetzen so derart packt wie Sie und mich und viele andere, nach dem, was in Norwegen geschehen ist. Aber: Gott leidet doch auch! Die Frage ist, ob es Ihnen jetzt gelingt, aus dem zerbrochenen Kinderglauben herauszuwachsen, Abschied zu nehmen von der Vorstellung, Gott sei eine allmächtige Person. Diese Gottesvorstellung hat sich doch bereits als naiv erwiesen, als sein eigener Sohn am Kreuz starb. Auch Ihr Sohn hat keine besseren Überlebenschancen, weil Sie für ihn beten. Es gibt keine Sonderversicherung für Gläubige. Glauben macht das Leben nicht unbedingt leichter. Im Gegenteil: Der Zweifel daran kann quälen. Und ich finde Ihre Zweifel absolut angemessen angesichts des Unglücks in Norwegen, wo sich die Fratze des Bösen gezeigt hat. Ihr Gottesbild ist zerbrochen. Aber es gibt andere Gottesbilder, andere Möglichkeiten zu glauben, und es ist für Sie wohl an der Zeit, erwachsen zu werden. Gott wendet die Katastrophen und den Tod nicht ab – aber vielleicht stirbt es sich anders, wenn jemand für einen betet.»
Die Vorstellung, dass einer wie Gott eventuell auch Trost braucht, fand ich wiederum irgendwie tröstlich. Eventuell werde ich erwachsen.
Anne Enright sagt: «Ich war, dachte ich mir, auf eine andere und vielleicht radikalere Weise Mensch geworden. Hatte etwas in den Strom der Zeit gleiten lassen. Was kann man da anderes tun, als dem Fluss zu vertrauen, als alles in die Hände einer höheren Macht zu legen? Ach ja.»
Ach ja, vielleicht. Trotzdem hoffe ich auf ein neues Jahr, in dem es sich leichter glauben lässt.
«Kinder fördern zu wollen,
ist Unsinn. Es reicht, ihnen ihre
Phantasie nicht auszutreiben.»
ANDRÉ HELLER
Anfang Dezember
S chlomo ist sieben Monate alt.
Jetzt ist die Sache eindeutig. Da nutzt kein Leugnen und kein Schönreden mehr.
Es gibt eine sehr betrübliche Tatsache, das Wesen meines Sohnes und einige Bereiche seines Körpers betreffend, die ich lernen muss zu akzeptieren. Ich will es ohne Umschweife sagen: Mein Sohn kommt stellenweise sehr nach mir. Und zwar an solchen Stellen, bei denen ich es mir nicht ausdrücklich gewünscht habe.
Nehmen wir zum Beispiel seine kräftigen Oberschenkel. Oder die gnubbeligen Knie. Gut, vielleicht wächst sich das noch zurecht. Was bleiben wird, ist das Leberfleckchen an seinem unteren Rücken. Sieht ein wenig so aus, als hätte er sich in etwas Unappetitliches reingelegt.
Schon mehrfach versuchten wohlmeinende, meist etwas kurzsichtige Fremdmütter den vermeintlichen Schmutz mit Feuchttüchern von seinem Körper zu rubbeln.
Die wenigen Haare
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