Unter dem Räubermond
irgendwie ängstlichen Blick auf die erstarrte Aliyat – »… wie er ihm auch alle seine Verfehlungen vergibt …«
Das Schweigen dauerte lang.
»Noch mal«, stieß Aliyat hervor, und Ar-Scharlachi las das Edikt nochmals vor.
»Seine Unterschrift?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Er zuckte mit den Schultern. »Sicherlich … Woher soll ich das wissen?«
»Und … wann …?«
Er schaute aufs Datum. »Vor elf Tagen … Das heißt, noch vor Sibra, vor den nickenden Hämmern … seltsam, dass sie es erst jetzt überreicht haben … Oder haben sie absichtlich gewartet? Was meinst du?«
Die letzte Frage überhörte Aliyat. »Den Alten zu suchen ist es schon zu spät«, sagte sie, wobei sie irgendetwas angestrengt kalkulierte. »Aber das Pergament – versteck es für alle Fälle irgendwo … Und behalte es in der Nähe … ein nützliches Pergament … Aber hör zu«, herrschte sie ihn an, »zu Kahirab davon kein Wort! Überhaupt zu niemandem!«
»Ich bin ja nicht dumm«, antwortete er, während er die Botschaft eng zusammenrollte. »Ist doch klar …«
Unvergesslich waren jene ersten Tage des Aufstandes. Nicht nur die Menschen schienen sich erhoben zu haben, sondern die Wüste selbst. Die vom Sturzregen überwältigten Sande regten sich, begannen zu leben. In den Niederungen und entlang der gestern noch trockenen Flussbetten erhoben sich feingliedrige rote, gelbe und marmorweiße Blumen. Die Kinder liefen aus den Gehöften und brachten ganze Arme voll davon mit.
Es sah aus, als seien die Ebenen im Norden der Tschubarra mit farbenprächtigen kimirischen Teppichen ausgelegt. Der Samum führte die Karawane durch wogende rote Felder, wo ihnen nur ab und zu ein blassgelbes Inselchen entgegenkam.
Die Augen der Aufständischen waren fiebrig, triumphierend; der bevorstehende Krieg erschien ihnen wie ein Fest, vor ihnen lag der unausweichliche Sieg. Wohl der Einzige mit düsterer Stimmung an Bord des Samum war Ar-Scharlachi selbst. Ihn quälte noch immer der Gedanke an den geopferten Schatten Ar-Ajafas. Er konnte sich natürlich nicht träumen lassen, dass die von ihm beweinte Oase nicht nur überleben, sondern in den bevorstehenden Kämpfen sogar unbehelligt bleiben würde. Der ganze Schaden, der Ar-Ajafa zuteilwurde, war diesem Schatten schon am ersten Tag des Aufstands zugefügt worden.
»Wir schwimmen auf Blut …«, presste Ar-Scharlachi hervor und ließ den Blick feindselig über die leuchtend roten Felder schweifen.
»Du nörgelst wie ein alter Mann!«, hielt ihm Aliyat vor. Sie stand neben ihm am rechten Bord. »Ich habe es satt! Ich sage dir: Alles läuft, wie es soll! Kahirab wird nicht unnötig Blut vergießen …«
»An Kahirabs Stelle«, bemerkte Ar-Scharlachi finster, »würde ich mich gerade bemühen, für möglichst viele Leichen zu sorgen.«
»Warum?«
»Weil es mit Toten einfacher ist. Da kann man nach Herzenslust Öl fördern, niemand stört einen …«
Die riesigen Räder drückten die zarten Köpfchen der Blumen in den Sandboden. Die Karawane kroch mit majestätischer Gelassenheit einher. Schönheit hin, Schönheit her, die ringsum ausgebreiteten Blumenteppiche verbargen Unebenheiten des Bodens, sodass man ein Schiff im Handumdrehen zu Bruch fahren konnte. Die blassgelben Inselchen wurden immer zahlreicher, bis sie sich vereinigten. Nun waren es rote Inselchen, die ihnen entgegenkamen.
Ar-Scharlachi ärgerte sich plötzlich über diesen seltenen Anblick, der ebenso eintönig war wie die Sande selbst, und er beschloss, in seine Kajüte zu gehen. Als er an der Kahirab zugeteilten Kajüte vorbeikam, blieb er stehen. Anfangs glaubte er, der Befehlshaber führe Selbstgespräche. Dann drang das bekannte Piepsen an sein Ohr, und Ar-Scharlachi öffnete energisch die Tür, wobei er sich bei dem Gedanken ertappte, dass er es schon gewöhnt war, wo auch immer einzutreten, ohne anzuklopfen. Der Anführer. Der Herrscher. Der Gebieter …
Kahirab, die starrsinnigen Brauen wütend zusammengezogen, saß auf den Kissen und hielt die bekannte kleine Metallschildkröte mit der biegsamen, ausziehbaren Rute dicht am Mund.
»Wieso denn?«, fragte er mit gedämpfter, schrecklicher Stimme. »Ist dir überhaupt klar, was du da sagst?«
Als er Ar-Scharlachi erblickte, winkte er einladend mit der freien Hand (setz dich doch), unterbrach das Gespräch jedoch nicht, mehr noch, er ging zu seiner Muttersprache über. Die mit Hauchlauten durchsetzten Vokale strömten dahin.
Ar-Scharlachi setzte sich ihm gegenüber
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