Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
Vom Netzwerk:
sicherlich Rinad selbst einweihte, beunruhigte den ehrwürdigen Tamsaa keineswegs. Zu dem Zweck hatte sie ihn ja letzten Endes empfohlen. Zu denken gab etwas anderes: die Ruhe und Gelassenheit, die alten Hofschranzen eigen war, aber doch keineswegs jungen Sekretären. Wenn er in Zorn geriet, sah Tamsaa beispielsweise in den Augen seines tüchtigen Gehilfen nicht die der Situation angemessene Furcht, und das legte wiederum den Gedanken nahe, dass es für Irwa weitaus ernstere Dinge gab, als den Sekretärsposten zu verlieren.
    Völlig ausgeschlossen war, dass der junge Mann als Abkömmling aus der Familie der Amme dienstliche und sonstige Geheimnisse an die Verwandten Ayots weitergab, der rangmäßig zweithöchsten Frau des Herrschers. Und dennoch hatte Tamsaa seinerzeit von seinen zuverlässigsten Informanten für alle Fälle überprüfen lassen, ob sein Sekretär nicht in irgendeiner Beziehung zu der dem Ehrwürdigen feindlichen Familie stehe. Wie zu erwarten war, erwies sich Irwa als sauber. Dennoch wollte der Verdacht nicht weichen …
    Wem also diente er denn nun? Ulqar persönlich? Ehrlich gesagt, schon bei dem Gedanken überlief einen ein Schauder … Wenn unser unerforschlicher Herrscher, der sich schon für unsterblich erklärt hatte, dennoch eine Karawane nach heilsamem Meerwasser ausgesandt hatte, konnte es ja durchaus sein, dass er zwar in die Seelen seiner Untertanen blickte, aber mithilfe ebenjenes Irwa überprüfte, ob er da auch richtig gesehen hatte.
    »Eine Beschwerde von Richter Ar-Maura«, teilte der Sekretär reserviert mit. »Kam mit der Postgaleere.«
    Der ehrwürdige Tamsaa bedachte den jungen Mann, der sich vor ihm verneigte, mit einem feindseligen Blick und ließ ihn auf eine Antwort warten. Sogar Irwas Äußeres beunruhigte den Ehrwürdigen aus irgendeinem Grund. Der groß gewachsene Sekretär, der mit den Jahren dick zu werden versprach, unterschied sich seiner Statur nach kaum von den meisten Bewohnern Harwas, aber das Gesicht … Braun gebrannt, stumpfnasig, mit breit stehenden Wangenknochen, fesselte es automatisch den Blick. Der Gedanke an eine Entstellung blitzte auf und verschwand sogleich wieder. Durchaus regelmäßige Züge … Nur war das Maß irgendwie fremd, unbekannt …
    »Wieder Ar-Maura?«, erkundigte sich murrend der Ehrwürdige, und wie üblich verstand ihn Irwa ohne viel Worte. Dieser Ar-Maura war anscheinend ein ganz kluger Mann, und trotzdem brachte er sich dem Herrscher immer wieder in Erinnerung … An seiner Stelle müsste man sich doch nicht mucksen, den Atem anhalten …
    »Etwas Außergewöhnliches?«
    »Ja.« Wie üblich war Irwa sehr ernst. »Vor vier Tagen hat eine Karawane unter dem Befehl Scharlachs …«
    Der Sekretär verstummte, denn der Ehrwürdige riss die Augen auf, und in ihnen lagen gleichzeitig Freude, Furcht und Unglauben.
    »Scharlachs?«, vergewisserte sich der Würdenträger schließ lich und zog eine Braue hoch. »Vielleicht Chaïlsas?«
    »Nein. Scharlachs. Die Karawane, bestehend aus dem Zweimaster Samum und der Kriegsgaleere Weißer Skorpion , lief in den Hafen ein, setzte mit den Spiegeln mehrere Gebäude in Brand, forderte Proviant und Lösegeld. Die Forderungen wurden erfüllt.« Der Sekretär verneigte sich noch tiefer und hielt dem Ehrwürdigen zwei Pergamentrollen hin. »Hier ist die Beschwerde Ar-Mauras und hier der Bericht des Kapitäns der Postgaleere …«
    »Und was soll die?«
    »Es geht um die Postgaleere, die von den Aufrührern im Hafen von Ar-Mauras Schatten gekapert wurde«, erklärte der Sekretär.
    »Seltsam …«, sagte der Würdenträger verständnislos und beunruhigt, während er das erste Pergament entrollte. »Der Samum ist das Flaggschiff des Karawanenführers Chaïlsa … so viel mir bekannt ist. Und von der Galeere … Wie heißt sie doch? Weißer Skorpion ? … Also von der höre ich überhaupt zum ersten Mal … Und wohin soll denn die ganze restliche Karawane verschwunden sein?« Er biss sich auf die Unterlippe und versenkte sich in die Lektüre. In dem Maße, wie er sich mit der klaren, gleichmäßigen Schrift vertraut machte, glitten die Brauen des Ehrwürdigen immer weiter in die Höhe. Mit einem derart vollständigen und schnellen Erfolg seines Vorhabens hatte Tamsaa nicht zu rechnen gewagt. Nachdem er beide Schriftstücke zu Ende gelesen hatte, saß er trotzdem noch lange mit gesenktem Kopf da und bewegte die Lippen, als lese er einzelne Zeilen nach. Der Ehrwürdige konnte sich jetzt seines eigenen

Weitere Kostenlose Bücher