Unter dem Räubermond
mürrisch. »Alles, wie es sich gehört …«
Im jetzt zerstörten Tempel von Harwa war die polierte runde Metallscheibe der Decke riesig und hing erschreckend hoch. Tag für Tag traten auf ihr die hellblauen Umrisse der Mutter Kamelstute immer deutlicher hervor, um in der Vollmondnacht mit endgültiger Klarheit zu erscheinen. Ob es wohl hier ebenso war?
Ringsum lärmte Turkla, auf Simsen und Türmchen gurrten die kleinen, perlfarbenen Turteltauben des Südens, glänzte kimirisches Mosaikglas.
Die einzige lebendige Stadt, dachte Ar-Scharlachi. Harwa ist krank … Kimir sicherlich auch … Der Palmenweg liegt im Sterben … Nur Turkla sprudelt vor Leben. Der Schatten, der Blut säuft …
Sie waren unterwegs zum zweiten Hafen, der bei Weitem nicht so günstig wie der erste gelegen war, von dem man sehr schnell in jede von drei Richtungen verschwinden und der Karawane, die einen verfolgte, eine Nase drehen konnte. Deshalb standen auf dem zweiten Hafen größtenteils friedliche Kaufleute, denen im Falle einer Razzia der Regierungstruppen nicht viel drohte, sowie Schiffe, die zum Verkauf angeboten wurden.
Neben einer Baracke wurde eine soeben aus Harwa eingetroffene Galeere entladen. »Entladen« war eigentlich der falsche Ausdruck. Die Ware ging selbst das kurze Fallreep hinab, das aus der niedrigen Luke herabgelassen worden war. Es wog ten leichte Seidenstoffe, schmiegten sich, wenn ein Windstoß kam, um feingliedrige Mädchenfiguren, dünne schwarze Schleier wehten. Ein paar einheimische braungesichtige Schön heiten bleckten von Weitem die Zähne, machten Witze von zweifelhaftem Anstand. Der Anblick kam ihnen unglaublich komisch vor. In diesem Harwa war eben doch alles anders als bei richtigen Menschen: die Männer nacktfressig, die Frauen jedoch verschleiert! Aber das Lustigste kam noch auf dem Gelben Markt, wenn man ihnen diese Schleier abnehmen würde … Alles, wie es sich gehört: Die Ware muss man betrachten können.
Aliyat verlangsamte den Schritt, schaute ebenfalls genauer hin. Ihre dunklen, zusammengekniffenen Augen blickten plötzlich böse und konzentriert, als ziele sie mit einem Kampfschild.
»Ein vertrauter Anblick?«, erkundigte sich Ar-Scharlachi.
»Ja«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Ein vertrauter …«
Er machte bekümmert »tss« und stellte keine Fragen mehr. Es konnte durchaus sein, dass Aliyat selbst vor langer Zeit etwas dergleichen durchgemacht hatte. Obwohl Ar-Scharlachi sie sich, ehrlich gesagt, in keinem Freudenhaus und schon gar nicht in einem Harem vorstellen konnte … Sie hätte ja in der ersten Nacht ihrem Herrn die Kehle durchgebissen, das hölzerne Fenstergitter zerbrochen – und hinunter …! Freilich, genauso konnte es gewesen sein …
Schweigend gingen Ar-Scharlachi und Aliyat um etliche Schiffe herum und blieben stehen. Die Postgaleere stand nicht vor dem niedrigen Gebäude, das dem Ankäufer gehörte.
»So schnell?«, sagte Aliyat ungläubig. »Ich dachte, wir würden noch an die fünf Tage warten müssen …«
Sie beschleunigten die Schritte, drückten gegen die Tür des Gebäudes und befanden sich in einem Zimmerchen mit niedriger Decke und zwei schmalen, Schießscharten ähnelnden Fenstern. Der Ankäufer, ein dünner, lächelnder Alter, war diesmal nicht bei Laune. Er schaute die Eintretenden zornig an, erwiderte ihren Gruß mürrisch und zeigte mit dem Finger, ohne sich von den Kissen zu erheben, schweigend auf einen abgeschabten Lederbeutel.
»Heute verkauft?«, fragte Aliyat, die Mühe hatte, den Beutel anzuheben.
Der Alte maß sie mit Blicken und wandte hochmütig seine krumme Nase ab, die wegen des eng sitzenden Schleiers noch hakenförmiger wirkte. »Vorgestern …«, sagte er in einem Ton, als spucke er aus.
»Warum so ungnädig, Ehrenwertester?«, fragte Ar-Scharlachi unwillkürlich.
Der Ankäufer warf den Kopf hoch und fixierte den Fragenden beleidigt. Ar-Scharlachi fühlte sich unbehaglich und wandte schulterzuckend den Blick ab. Mit schwerem, fettem Klingen wurden Goldmünzen auf den Teppich geschüttet. Aliyat hockte sich vor dem matt glänzenden Haufen hin und begann zu zählen.
Wo sonst noch, in welcher anderen Stadt konnte man einen Haufen Gold direkt auf einem Teppich sehen, noch dazu bei unverschlossener Tür? So seltsam es klingen mag, aber in Turkla selbst gab es keinen Raub. In diesen Dingen verstehen Räuber keinen Spaß. Diebstahl kam vor. Diebstahl hatte man nicht vollends ausrotten können, obwohl ertappte Diebe
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