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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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auch das Asylrecht abgeschafft, doch das Vertrauen in die Hohepriester war erhalten geblieben. Das Haus eines von ihnen, der dem Kamel namens Awr diente, eignete sich bestens für ein geheimes Treffen der beiden Würdenträger, denn obwohl der Hausherr sein Amt verloren hatte, war er nach wie vor stumm und unbestechlich.
    In dem fensterlosen Zimmer brannten sieben Leuchter und legten einen gelblichen Glanz auf die reglosen Runzeln des schweigsamen Hausherrn und auf sein Haupt, das kahl war wie der böse Mond.
    »Wozu drum herumreden?«, sagte Tamsaa müde. »Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich natürlich einen meiner Leute an die Spitze der Karawane gestellt. Doch der Herrscher, der mir offensichtlich nicht vollends traute, verlangte, die Karawane solle jemand von Ayjuts Verwandten führen. Es ist verständlich, dass meine Wahl auf den ehrwürdigen Chaïlsa fiel …«
    Die Würdenträger saßen an einem kleinen Tisch einander gegenüber. Die Leibwächter hatten sie an der Haustür gelassen, die Sekretäre im Vorzimmer.
    Der auf Greisenart schöne Alras mit den grauen Augenbrauen presste zweifelnd die trockenen Lippen zusammen.
    »Eine seltsame Wahl«, bemerkte er zänkisch. »Bei all meinem Respekt für meinen Onkel – hoffen wir, dass er noch am Leben ist! – hätte ich ihm nicht einmal den Befehl über eine Vergnügungsfahrt anvertraut. Unter Ayjuts Verwandten gibt es viele weitaus fähigere Flottenführer …«
    Der ehrwürdige Tamsaa hüstelte und breitete über der geschnitzten Tischkante hilflos die weißen Hände aus. »Ja, das ist wahr, aber … Du wirst zugeben müssen, Ehrwürdiger, dass keiner von ihnen bisher den Rang eines Karawanenführers erlangt hat. Ich wollte einfach keinen Streit …«
    »Ich bin da anderer Ansicht«, teilte Alras leidenschaftslos mit. »Aber lassen wir das jetzt … Der Mond ist mein Zeuge, bis gestern Abend hatte ich keine Ahnung von dieser Expedition zum Meer und auch nicht von diesem … wie heißt er? Scharlach …? Ulqar hat mir gegenüber kein Sterbenswörtchen verlauten lassen …«
    Den letzten Satz sprach Alras mit verborgener Furcht. Die trockenen, nervösen Finger strichen wer weiß warum über die Vergoldung des Schnitzwerkes.
    »Durchaus verständlich«, tröstete ihn Tamsaa und betrach tete sein Gegenüber verständnisvoll. »Für die inneren Angelegenheiten bin immerhin ich zuständig, nicht du …«
    Der andere bedachte ihn mit einem Blick unter gesenkten Brauen hervor. Als alter Höfling glaubte Alras längst keinen beruhigenden Erklärungen mehr.
    »Nun gut«, sagte er, nachdem er kurze Zeit unzufrieden geschwiegen hatte. »Lass uns zur Sache kommen. Uns bleiben zwei Monde … Wozu eigentlich?«
    »Dazu, Ulqar ein Fass mit Meerwasser zu beschaffen«, warf Tamsaa hin.
    »Dann beschaffe es doch. Wo ist das Problem? Lass uns einen anderen Führer ausfindig machen und noch eine Karawane ausrüsten. Was für Wasser soll das sein? Was sagen die Weisen?«
    Tamsaa runzelte missmutig die Stirn. »Jeder etwas anderes. Die einen reden von unerklärlicher Süße, andere von ebenso unerklärlicher Bitterkeit … Sie stimmen nur in einem überein: Das Wasser muss sehr durchsichtig sein.«
    »Man sollte lieber Zucker nehmen …«
    Tamsaa straffte sich zornig. »Wenn alles so einfach wäre, Ehrwürdiger, hätte ich dich nicht um ein Treffen gebeten! Ulqar glaubt überhaupt nichts mehr. Ehrlich gesagt, ich sehe vorerst keinen Ausweg …«
    »Na, ein Ausweg findet sich immer«, murmelte Alras.
    Eine Sekunde lang schauten sie einander in die Augen. Dann runzelten sie gleichzeitig die Stirn und wandten den Blick ab. Ja, einen Ausweg gab es … Doch damit sollte man lieber nichts übereilen. Ulqar mochte dreimal wahnsinnig sein, aber Harwa zitterte vor ihm. Und wenn er nicht wäre, begännen sofort die Wirren …
    Der kahlköpfige Hausherr näherte sich lautlos. Er stellte zwei Schälchen vom Tablett auf den Tisch und goss eigenhändig Wasser aus einem Silberkrug ein. Wein war im Hause des Hohepriesters (wie einst im Tempel) verboten. Noch immer schweigend, ging er rückwärts an seinen Platz, setzte sich und erstarrte wieder, ohne den Blick von den beiden Würdenträgern zu wenden. Diese dankten ihm mit einem tiefen Kopfnicken und wandten sich wieder dem Gespräch zu.
    »Dann versuchen wir Ulqar zu überzeugen, dass es einfach unmöglich ist, zum Meer zu gelangen«, schlug Alras vor. »Am besten, wenn das der Führer selbst gesteht … Ich muss sagen, du hast ziemlich

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