Unter dem Räubermond
paar Sekunden verstrichen in gespannter Erwartung. Die Fackeln brannten, kamen aber nicht näher.
Von unten hämmerte jemand gegen die Falltür. Aliyat (die, wie sich zeigte, auf der Tür stand) trat beiseite, bückte sich und riss den Ring hoch.
»Ruhe da unten!«, zischte sie den zurückschreckenden Aitscha an. »Waffen bereithalten und Befehle abwarten. Fertig!«
Auf die Gefahr hin, Aitscha bewusstlos zu schlagen, warf sie die Luke zu, richtete sich langsam auf und wandte sich Ar-Scharlachi zu.
»Jetzt verstehe ich …«, sagte sie fast unhörbar. Sie wich zurück und stieß gegen das Steuerrad. »Ja, jetzt verstehe ich alles … Lako hatte recht …«
Ohne auf sie zu achten, spähte Ar-Scharlachi aufmerksam durch das Glas der Blende.
»Nein, das hält nicht lange …«, murmelte er verzweifelt. »Gleich holen sie den Zauberer und greifen wieder an … Wenn wir uns wenigstens bis zum Morgen halten könnten …«
Er wandte sich um und sah Aliyats Augen. Sie stand an einem Sehschlitz, und ein Streifen Mondlicht lief jetzt quer über ihr Gesicht.
»Was hast du?« Ar-Scharlachi machte einen Schritt auf Aliyat zu, und sie presste sich mit dem Rücken gegen die Trennwand. Er blieb stehen, begriff alles – und lachte auf. Es war freilich kein freudiges Lachen.
»So ist es gewiss auch Lewwe gegangen«, sagte er und verzog kläglich den Mund. »Als sie kamen, um ihn zu ermorden – gleich nach dem Edikt … Sicherlich hat er auch versucht, die Menge mit seinen Beschwörungen zu vertreiben … Und wahrscheinlich mit dem gleichen Erfolg …«
Es war schon ziemlich viel Zeit vergangen. Die Fackelkette hielt sich nach wie vor in einiger Entfernung. Einzelne Feuer waren niedergebrannt.
Wieder wurde die Luke geöffnet. »An der Bordwand scheint etwas geraschelt zu haben«, meldete Aitscha mit belegter Stimme. »Schau nach, ist jemand auf Deck geklettert …?«
Das war freilich nicht mehr notwendig. Alle drei hörten deutlich, wie in der Stille Metall klirrte und nackte Füße tappten.
»Wer spricht Nganga?«, ertönte von draußen eine näselnde und irgendwie sogar unmenschliche Stimme. Sie sprach die Wörter seltsam aus – wie beim Ein- statt beim Ausatmen.
»Ich«, meldete sich Ar-Scharlachi heiser.
Draußen wurde geschwiegen. Dann ertönte wieder die seltsame Stimme: »Komm raus, wer spricht.«
Die drei wechselten Blicke. Im Deckhaus war es dunkel, darum sah Ar-Scharlachi den Gesichtsausdruck Aitschas und Aliyats nicht.
Als er einen Schritt zur Tür hin machte, die auf Deck führte, fühlte er über dem Ellbogen den bekannten kräftigen Griff kleiner Finger.
»Ich muss gehen …«, seufzte er so leise wie möglich. »Vielleicht einigen wir uns …«
Die Finger gaben zögernd nach. Ar-Scharlachi öffnete die Tür einen Spaltbreit, trat hinaus und schlug sie sofort wieder zu. Hinter seinem Rücken klackte der leichte Stahlriegel.
Vor Ar-Scharlachi stand auf dem vom Mondlicht erhellten Deck eine glatte, wie aus schwarzem Granit gehauene kleine, gebrechliche Gestalt. Die schmalen Handgelenke waren mit Armreifen aus Golddraht geschmückt, auf der schmalen, eingefallenen Brust breiteten sich halbkreisförmig Lederschnüre aus, auf die Metallstücke aufgefädelt waren, irgendwelche Eck zähne, durchbohrte Steinchen und sogar die Schädel kleiner Echsen. Vom Gürtel bis zu den Knien reichte ein ebenso kompliziert gestalteter Rock aus Streifen von Fellen, Baumrinde und geflochtenen Lederriemchen.
Ar-Scharlachi schaute dem Unbekannten ins Gesicht und zuckte zusammen, als er eine Zähne fletschende Holzmaske erblickte, sehr ähnlich jener, die ihm einst der weise Lewwe gezeigt hatte.
Der trübe, hin und her huschende Schein des kleinen Lagerfeuers hob die geschnitzten wütenden Fratzen von Götzen aus dem Dunkel, und es schien, als schnitten die grausamen hölzernen Götter Grimassen und zwinkerten einander zu. Die kleinwüchsigen schwarzen Eingeborenen hatten diese ziemlich dicken Baumstämme von weither heranschleppen müssen. Hier war ja kein einziger gerader Stamm zu finden … Es war also wohl etwas Wahres daran gewesen, wenn die Mütter in Ar-Scharlachis Schatten (und sicherlich überall) den Kindern Angst machten: Wenn du dich bis spätabends herumtreibst, erwischen dich die schwarzen Zauberer, die in mondlosen Nächten Holz stehlen. Ar-Scharlachi wusste noch, wie oft er aus purem Übermut abends mitten ins Gehölz gegangen war, bedrohlich geächzt und vom Boden aufgesammelte trockene Äste zerknackt
Weitere Kostenlose Bücher