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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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aneinanderstießen. Neben dem Tisch saß direkt auf dem Boden ein Mann, der Tiangi sehr ähnlich sah, höchstens ein wenig älter und dunkelhäutiger. Dem Mann war kalt, er hatte sich in eine gelblich braune Wolldecke gehüllt, aus der nur die braunen Hände hervorrag ten. Die schweren Lider halb gesenkt, glitt der Sitzende mit den Fingern über eine Art Gebetskette, wie sie Ar-Scharlachi noch nie gesehen hatte – mit kleinen Knoten anstelle von Perlen.
    Der Mann hob die Lider und musterte die Neuankömmlinge fragend.
    »Da«, sagte Tiangi und schob Ar-Scharlachi vor. »Ar-Scharlachi. Ein alter Bekannter aus Harwa. Schüler des weisen Gojen, derzeit Räuber. Hat vorgestern Sibra niedergebrannt …«
    »Nur den Hafen«, brachte Ar-Scharlachi mit zugeschnürter Kehle hervor.
    »Na, das ist auch nicht übel.«
    Der Mann musterte Ar-Scharlachi schweigend. Dann legte er die Schnur mit den Knötchen auf den Tisch, wo schon ziemlich viele ebensolche Schnüre herumlagen – in wirrem Durcheinander mit Pergamenten und noch irgendwelchen weißen, dünnen Blättern, auf denen sich in gleichmäßigen Zeilen Schriftzeichen drängten, klein wie Sandkörner.
    Schließlich öffneten sich die dunklen Lippen. »Was heißt ›niedergebrannt‹?« Der Mann sprach jedes Wort sorgfältig aus, und die seltsamen Behauchungen waren bei ihm noch deutlicher als bei Tiangi zu hören. »Du hast den Überfall angeführt?«
    »Ja.«
    Der Mann nickte. »Das heißt, du genießt Respekt …«, stellte er wie für sich selbst fest. »Raubst du schon lange?«
    »Er sagt, seit fünfzehn Tagen«, antwortete Tiangi für Ar-Scharlachi.
    »Du raubst seit fünfzehn Tagen …«, sagte der Mann langsam, jedes Wort abwägend, den Blick aus den schwarzen Augen weiterhin auf Ar-Scharlachi gerichtet. »Hast den Hafen von Sibra niedergebrannt … In Harwa bei Gojen gelernt … Ar-Scharlachi … Ar… Deine Vorfahren haben also über einen Schatten des Palmenwegs geboten?«
    »Ja … Ar-Scharlachis Schatten …«
    Der Mann drehte ohne Eile den Kopf und schaute Tiangi an. »Schenk ihm ein«, sagte er. »Du siehst doch, dass er sich kaum auf den Füßen hält … Und du setz dich«, wandte er sich wieder an Ar-Scharlachi.
    Vielleicht lassen sie mich doch laufen, dachte jener träge und setzte sich erschöpft auf ein goldfarbenes, aus Stroh geflochtenes Quadrat. Immerhin bieten sie schon Wein an …
    Tiangi schob einen Vorhang beiseite (Türen schienen sie hier nicht zu mögen, oder sie waren einfach zu faul dazu, welche anzubringen) und ging in den Nebenraum. Hinter der dünnen Wand klirrte etwas, gluckerte, und bald kam er wieder, brachte einen Granatapfel und einen kleinen Glaszylinder mit, der zu zwei Dritteln mit etwas Durchsichtigem gefüllt war. Ar-Scharlachi war schwer enttäuscht. Anscheinend war hier wie im Tempel der Vier Kamele Wein verboten.
    Als er jedoch das Glasgefäß aus den Händen Tiangis empfangen und den Schleier vom Gesicht geschoben hatte, kam Ar-Scharlachi auf den Gedanken, an der Flüssigkeit zu riechen – und er zuckte zusammen. Unwillkürlich kam ihm das Fläschchen in den Sinn, das ihm Aliyat in der Kajüte des Karawanenführers Chaïlsa unter die Nase gehalten hatte.
    »Keine Angst, es ist kein Gift«, sagte Tiangi, während er den Granatapfel knetete. »Schütte es hinunter. Es ist widerwärtig, weil du es nicht gewöhnt bist, aber es wirkt stärker als euer Wein.«
    Mit diesen Worten nahm er unter seinem Mantel eine Klinge von sonderbarer Form hervor und machte ein kleines Loch in die Schale des Granatapfels.
    Ar-Scharlachi entschloss sich und trank aus. Die Augen quollen ihm hervor, und die scharfe, bittere Flüssigkeit blieb in der Kehle stecken, sodass es ihn übermenschliche Anstrengung kostete, sie hinunterzuschlucken. Tiangi füllte das Glas sofort mit Granatapfelsaft.
    »Trink nach.«
    Der edel herbe Granatapfel übertönte den widerlichen Nach geschmack, und schon nach ein paar Sekunden fühlte sich Ar-Scharlachi zu seiner Verwunderung wesentlich frischer. Die Trübung vor den Augen war verschwunden.
    »Was ist das?«, fragte er und streckte den Glaszylinder aus.
    »Jetzt?«, fragte Tiangi irgendwie sonderbar zurück, während er den Rest des Saftes in das Glas ausdrückte. »Ein alkoholisches Getränk …«
    »Und vorher?«
    »Das wäre eine lange Erklärung«, sagte Tiangi, nahm eine glatte, runde Schnur vom Tisch und setzte sich ebenfalls auf den Fußboden. Mit einer nicht zu verfolgenden, gleichsam alltäglichen Bewegung

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