Unter dem Räubermond
angezündeten Lichtern von der riesigen dunklen Kugel und glitt in den Lichtstreifen, wo schon reglos eine einzelne menschliche Gestalt stand. Nachdem er die letzten Anweisungen gegeben hatte, stieg Ar-Scharlachi auf der Strickleiter die Bordwand hinab, und sie gingen zu zweit auf die Quelle des Lichts zu.
»Dein Glück, dass du dich neben den Tank gestellt hast«, bemerkte der Unbekannte wie beiläufig.
»Wieso?«
»Sonst hätten wir dich verbrannt«, lautete die ziemlich gleichgültige Antwort.
»Warum?«
Der Unbekannte zuckte mit den Schultern. »Wir konnten doch nicht wissen, dass du ein Räuber bist. Die Wimpel sind im Dunkeln auch nicht zu sehen. Wer soll da erkennen, was du am Mast hast …?«
Eine Zeit lang trottete Ar-Scharlachi in konsterniertem Schweigen hinter ihm her. Seine Gedanken hatten sich vollends verwirrt.
»Das heißt, wenn ich kein Räuber wäre …«, setzte er stotternd an.
»Ganz richtig.« Der Unbekannte nickte.
Ar-Scharlachi schüttelte heftig den Kopf. Es half nicht.
»Aber Räubern tut ihr nichts?«
In seiner Stimme klang wohl ein ganz kindliches Staunen, darum wandte ihm der Fremde das dunkle breitknochige Gesicht zu und lächelte zum ersten Mal. »Wozu ihnen etwas tun? Räuber sind nützliche Wesen … Übrigens, du kannst mich Tiangi nennen.«
22
Ein Herrscher außer Kontrolle
T iangi … Nein, Ar-Scharlachi hatte in Harwa entschieden keinen Bekannten mit diesem Namen gehabt. Sein miserables Gedächtnis betraf nur Gesichter und Daten; Namen und Texte (insbesondere Gedichte), die er einmal gehört hatte, vergaß er aber nie. Noch dazu solch einen seltsamen Namen – Tiangi! Er hätte doch gleich begonnen nachzuforschen: woher der Name kam, was er bedeutete, wo er verbreitet war … Und wenn es ein Spitzname war, war er erst recht rätselhaft. Anders als Namen haben Spitznamen immer einen Sinn. Obwohl … In den Diebe- und Räubersprachen findet man mitunter ganz merkwürdige Wörter … Man müsste Aliyat fragen …
Bis zur Lichtquelle blieben ihnen noch rund zehn Schritte. Außerstande, ihre blendende Helligkeit zu ertragen, schaute Ar-Scharlachi zu Boden. Dann schielte er über die Schulter und stolperte sogleich, pflügte mit der Schuhspitze durch den Kamm einer Sandwoge. Der Anblick war ganz unglaublich. In die undurchdringliche Nacht erstreckte sich ein heller Pfad mit von Finsternis verwaschenen Rändern. Die Schatten der kleinen Dünen erinnerten an Schnitzwerk, und der rosa-goldene Samum glich von hier aus einem kunstvoll gedrechselten Zierrat.
»So schalt ihn doch aus!«, sagte Tiangi gereizt, worauf Ar-Scharlachi stutzte und den Schritt beschleunigte. Die Worte seines Begleiters beunruhigten ihn in ihrer Unverständlichkeit. »Ausschalten …« Wen? Von wo aus …? Außerdem war unklar, an wen sich Tiangi gewandt hatte.
Vor ihnen ertönte ein trockenes Klicken – und es war finster. Der Lichtfluss, der die Wüste durchflutet hatte, war versiegt, der Samum hinter ihnen – verschwunden. Einen Augenblick lang nichts sehend, blieb Ar-Scharlachi stehen.
Das Erste, was er dann erblickte, war ein Quadrat trüben Lichts, das direkt in der Luft zu schweben schien. Dann tauchte vor dem Hintergrund des Quadrats schwarz die breite Schulter Tiangis auf, der zielsicher auf diesen trüben Fleck zuging.
Ein paarmal stolpernd und mit dem Mantel an etwas hängen bleibend, folgte Ar-Scharlachi seinem Begleiter. Ihm kam allmählich zu Bewusstsein, dass das helle Quadrat ein Fenster war und die kantig darum zusammengeballte Finsternis höchstwahrscheinlich eine Hütte oder ein anderes Gebäude.
Statt einer Tür verschloss den Eingang ein dichter Vorhang. Tiangi zog ihn beiseite, wandte sich um und sagte: »Tritt ein …«
Ar-Scharlachi tat wie geheißen. Wie sich zeigte, war ihm das Licht im Fenster nur trübe vorgekommen. Der kubische Raum mit kahlen Wänden aus einem unbekannten Material war von einem leichenblassen Leuchten erfüllt, das ein hufeisenförmig gebogener, mit beiden Enden in der glatten, schmucklosen Decke steckender Stab verbreitete. Man hatte den Eindruck, der Stab sei bis zur Weißglut erhitzt, doch zu seiner Verwunderung spürte Ar-Scharlachi keine von ihm ausgehende Wärme.
Die Einrichtung des Zimmers war ebenfalls ziemlich seltsam. In der Ecke stand ein niedriger Tisch auf geraden Beinen, Stühle waren indes überhaupt nicht zu sehen. Der Fußboden war mit kleinen, geflochtenen Matten belegt, die einen goldenen Farbton hatten und mit den Kanten
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