Unter dem Räubermond
sie gesehen …? Lebendige?«
Statt einer Antwort schielte Tiangi zu Ani hinüber, der wieder in Nachdenken versunken war.
»Also weißt du, mir gefällt er«, teilte Tiangi mit. »Das ist anscheinend genau das, was wir brauchen. Wir bringen ihn auf die andere Seite, zeigen ihm ein Kamel …«
Es kränkte Ar-Scharlachi ziemlich, dass man von ihm sprach, als sei er gar nicht zugegen. Oder wie von einem unbelebten Gegenstand. Doch ordentlich gekränkt zu sein, dazu blieb ihm keine Zeit – die letzten Worte Tiangis hatten gar zu verblüffend geklungen.
»Auf die andere Seite der Berge?!«
Ani runzelte die Stirn, reckte eine dunkle Hand aus der Decke und bat mit einer Geste um Ruhe. »Hör mir zu, Ar-Scharlachi. Erstens, hör auf, dich vor uns zu fürchten. Im schlimmsten Falle – das heißt, wenn wir uns nicht mit dir einigen – fährst du einfach weg. Auf deinem Schiff und mit deinen Leuten.«
»Und im besten?«
Ani wollte antworten, doch da schleuderte eine große schwarze Hand den Vorhang beiseite, und in den Raum trat ein Mann, dessen bloßer Anblick schon Ar-Scharlachi innerlich frösteln ließ. Der Mann war dunkelhäutig, hatte krause Haare, und seine Gesichtszüge erinnerten an die Eingeborenen, doch sein Wuchs … Der Eintretende war größer und viel breiter als alle Anwesenden. Doch nicht einmal das ließ Ar-Scharlachi erschrecken. Gesicht und Brust des Fremden waren von einem komplizierten bläulichen Muster bedeckt. Nichts dergleichen hatte Ar-Scharlachi jemals zu Gesicht bekommen. Ihm kamen die in ihrer Regelmäßigkeit unheimlichen Narben in den Sinn, mit denen der Zauberer Mbanga geschmückt war.
Der Mann wandte das breitwangige bemalte Gesicht Ani zu und begann zu sprechen, was Ar-Scharlachi noch eine schockierende Überraschung bescherte. Die Sprache war ihm unbekannt. Die klangvolle Rede des Neuankömmlings erinnerte in nichts an die näselnden Seufzer der schwarzen Eingeborenen; sie war voller Hauchlaute und schien ansonsten aus lauter Vokalen zu bestehen. Die einzige bekannte Lautverbindung war das oft wiederholte »Ani-Tama’i«.
Ani hörte zu, und seine Stirn umwölkte sich noch mehr. »Für die dritte Pumpe bist du verantwortlich«, warf er schließlich hin.
Der dunkelgesichtige, bemalte Unbekannte wirkte beunruhigt und begann wieder zu reden.
Ani griff nach einer der auf dem Tisch liegenden Schnüre und warf sie dem Unbekannten zu. »Geh und knüpfe«, sagte er. »Du siehst doch: Wir haben hier auch ohne dich genug zu tun.«
Der Mann winkte missmutig ab und ging hinaus. Ar-Scharlachi saß reglos da, außerstande, den Blick von dem wogenden Vorhang zu wenden.
»Wovor bist du erschrocken?«, sagte Tiangi. »Jeder schmückt sich, so gut er kann …«
»Wer seid ihr?«, fragte Ar-Scharlachi bedrückt. »Was wollt ihr hier?«
»Na, deine erste Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Die zweite schon eher … Wir wollen hier Erdöl. Erdöl und Gas …«
»Gas? Was ist das?«
»Hm … Wie soll ich dir das erklären … Brennende Dämpfe. Aber hauptsächlich Öl. Viel Öl. Und außerdem wollen wir nicht gestört werden. Das ist eigentlich alles.«
»Ar-Scharlachi«, ergriff Ani wieder das Wort, und Tiangi verstummte eilends. »Sag … Wenn es den Aufstand nicht gegeben hätte, die Abspaltung Harwas von Kimir, die Edikte Ulqars … Dann wärst du jetzt Gebieter eines eigenen Schattens, nicht wahr?«
»Ich fürchte nein«, sagte Ar-Scharlachi. »Mein Vater ist gestorben, als ich noch ein Kind war, deshalb ist mein Onkel Gebieter geworden … Dann hat er sich irgendwie vor dem Herrscher schuldig gemacht und ist hingerichtet worden.«
»Nein, das meine ich nicht. Du bist ein Erbe der ehemaligen Gebieter des Palmenweges, ja?«
»Nun, alles in allem … ja.«
»Du hast in Harwa eine blendende Bildung erworben …«
»Na, sagen wir, nicht allzu blendend …«
»War dein Lehrer nicht der weise Gojen?«
»Ja, aber ich fürchte, ich war bei Weitem nicht sein bester Schüler …«
»Mit anderen Worten, du verfügst auch noch über Bescheidenheit. Und womit, Ar-Scharlachi, hast du dich nach dem Aufstand und der Thronbesteigung Ulqars befasst? Ich meine: Womit hast du dir den Lebensunterhalt verdient?«
Ar-Scharlachi lächelte verlegen. »Ich habe auf Handelsgaleeren angeheuert.«
»Hervorragend!«, sprach Ani mit spöttisch verzogenem Mund. »Einfach hervorragend! Ulqar ist beispiellos. Die Aristokratie auszumerzen und die Weisen zu vertreiben! Und die Gebieter des Palmenweges den
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