Unter dem Safranmond
bereits geöffnet gewesen, nicht wahr? Briefe, die er anhand ihres Datums zuordnen konnte – als Maya neun gewesen war, dreizehn, siebzehn, zwanzig. Viele waren es gewesen, und doch erstaunlich wenige, zog man den langen Zeitraum in Betracht, in dem sie entstanden waren. Ihr Inhalt hatte Ralph in seinen Grundfesten erschüttert. Das waren keine Briefe, die man einem kleinen Mädchen schrieb, einer Heranwachsenden, sondern einer Person auf Augenhöhe, mit Schilderungen fremder Länder, Gedanken über das Leben und den Tod, die Liebe und das Wissen über die Welt. Selbst kein Kind von Traurigkeit, war Ralph schockiert gewesen, wie freizügig Burton der blutjungen Maya – kaum sechzehn – über körperliche Liebe geschrieben hatte. Und zu erfahren, dass Maya, die ja für ihn spürbar noch Jungfrau gewesen war, schon lange vor ihrer gemeinsamen Hochzeitsnacht alles darüber gewusst hatte, mehr sogar noch als er, vielleicht auch mehr von ihm erwartet hatte, ließ ihn fassungslos und angeekelt zurück. Was er im Lampenlicht bis zum Morgengrauen aus der winzigen, unleserlichen Handschrift entziffert hatte, zeigte ihm eine Maya, die er nicht kannte, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Und er beneidete Richard Francis Burton weniger darum, dass er Maya von klein auf kannte, sie – wenn auch aus der Ferne – in ihrem Wachsen und Werden begleitet hatte. Sondern er neidete ihm die Kenntnis jener Seite ihres Wesens, die für Ralph verborgen geblieben war.
Als Ralph auf seinem Weg in den verlassenen Bungalow stehen blieb und zum Himmel blickte, an dessen malvenfarbenem Samt der Abendstern aufglomm, begriff Ralph, dass die wahre Terra incognita nicht hinter Aden lag, sondern in Maya selbst. »Ich werde dich finden«, flüsterte er in die laue Luft hinaus. »Ich bringe dich zurück und werde dir ein besserer Ehemann sein. Das verspreche ich dir.« Und er hoffte, seine Gefühle hinter diesen Worten konnten Maya erreichen. Wo immer sie jetzt auch sein mochte.
2
Der Nachhall eines vertrauten Klanges drang zu Maya hindurch, monoton und singend zugleich, und die Schwingungen der Rufe des Muezzins, die noch in der Luft vibrierten, holten sie ins Bewusstsein zurück. Mühsam öffnete sie die Augen, blinzelte in den winzigen, kahlen Raum hinein, dessen Wände im fahlen Licht nicht kühl-weißlich schimmerten, sondern einen gelbbräunlichen, warmen Ton hatten, wie Siena. Ein pochender Schmerz pulsierte in ihrem Kopf, als sie ihn anhob; alle Glieder taten ihr weh. Sie drückte sich von dem einfachen Strohsack hoch, setzte sich schließlich mühsam auf und lehnte tief durchatmend den Rücken gegen die kühle Wand. Der Kopfschmerz ging in ein ausgedehntes Prickeln über; ihr schwindelte, und eine Woge der Übelkeit ergriff sie, zwang sie zu würgen. Sie robbte hinüber zu dem hölzernen Eimer, der wohl zur Verrichtung ihrer Notdurft gedacht war, und erbrach wässrige Flüssigkeit, bis sie nur noch Galle schmeckte. Keuchend richtete sie sich wieder auf, kroch zurück und tastete zitternd nach dem Krug und Becher aus Ton neben ihrem Lager, goss sich ungeschickt ein und trank in so gierigen Zügen, dass ihr feine Bäche links und rechts über das Kinn hinabliefen. Wasser, das frisch und rein schmeckte, ihren Durst löschte, den widerwärtigen Geschmack in ihrem Mund und das Brennen ihrer wunden Kehle hinabspülte. Als ihr Atem ruhiger wurde, fühlte Maya sich bedeutend besser. Was hatten sie ihr angetan?
Hektisch begann sie sich abzutasten, jeden Teil ihres Körpers nach Verletzungen und Blessuren zu untersuchen, und seufzte erleichtert auf, als sie schließlich feststellte, dass alles heil, sie unversehrt und ihre Kleidung vollständig war. Auch ihren Ehering und die Kette mit dem Medaillon hatte man ihr gelassen. Nur ein handtellergroßes Stück am Saum ihres Überrockes fehlte, und da dieser nun ohnehin schon beschädigt war, riss sie daneben noch einen Fetzen herunter, tunkte ihn in den Wasserkrug, wrang ihn aus und fuhr sich damit über Hände und Gesicht. Ein Schmerzenslaut entfuhr ihr, als sie dabei über ihre Schläfe rieb, und vorsichtig betastete sie die Stelle. Der Ausläufer ihres Jochbeins war angeschwollen und druckempfindlich, schien aber nicht ernstlich verletzt zu sein. Ihr Magen zog sich knurrend zusammen, als ihr Blick auf den Teller hinter dem Wasserkrug fiel, auf dem sich ein Fladenbrot und ein kaltes Gemüsegericht befanden. Maya zögerte, während sie nach den Strähnen ihres Haares tastete,
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