Unter dem Safranmond
sie Maya einfach verschwinden lassen, ohne dass sie jemals irgendjemanden Vertrautes wiedersah, nie jemand erfuhr, was ihr zugestoßen war. Sie dachte an Ralph, fragte sich, ob er sich um sie sorgte oder ihr im Stillen Vorwürfe machte, womöglich gar Erleichterung empfand, sie losgeworden zu sein.
Maya war elend zumute. Sie wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können, gestern nicht zum Turm hinaufgegangen zu sein, nie Aden betreten zu haben, nicht mit Ralph durchgebrannt zu sein. In diesem Augenblick hätte Maya, ohne zu zögern, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, dass er ihr das vergangene Jahr zurückbrachte. Dann säße sie jetzt nicht hier, wäre Jonathan noch am Leben und Richard vielleicht nicht auf dem Weg auf die Krim. Doch das Leben kennt keine Umkehr, kettet unerbittlich Konsequenzen an des Menschen Entscheidungen und Handlungen, und während Maya unbeweglich dort in der Kammer saß, die von der Dunkelheit der anbrechenden Nacht geflutet wurde, spürte sie, wie der unablässig vorwärtsdrängende Strom der Zeit sie mit sich nahm, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Zum ersten Mal konnte Maya an Leib und Seele fühlen, was es hieß, sich gen Mekka aufzumachen, nach Harar, Berbera oder Sebastopol, ohne Garantie auf Rückkehr, sich blind seinem Schicksal anvertrauend. Sie hörte Richard lachen, sein unverwechselbares trockenes Lachen, wie er ihr spöttisch zurief: Das ist die gerechte Strafe, Majoschka! So lange hast du nach Abenteuern gegiert, dich danach verzehrt, welche zu erleben – jetzt kannst du zeigen, dass du einem solchen gewachsen bist! »Und ob ich das bin!«, antwortete Maya ihm trotzig, sich selbst damit Mut zusprechend. »Ich werde es schaffen! Mutter und Vater sollen nicht noch ein Kind verlieren.« Um die Tränen zurückzudrängen, die ihr in den Augen brannten, als sie an Gerald und Martha dachte, an Jonathan, biss sie sich auf die Unterlippe, schloss die Lider und lehnte den Kopf gegen die Wand.
»Ich werde das hier überstehen«, nahm sie sich selbst im Flüsterton ein Versprechen ab. »Egal wie.«
3
Es war noch früh am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang und lange nachdem die Gebetsrufe von den Minaretten verklungen waren, als Maya von der gleichen Frau wie am Tag zuvor eine Mahlzeit gebracht bekam. Jedenfalls nahm Maya an, dass es sich um dieselbe Person handelte, denn alles, was sie von deren Gesicht sehen konnte, war die Augenpartie – schöne, große Augen mit einer Iris in Umbra, von einem schwarzen Wimpernkranz beschattet und schon von den Linien späterer Lebensjahre untermalt. Augen, die mit einem Ausdruck des Mitgefühls Mayas rotgeränderte betrachteten, die verrieten, dass diese sich vergangene Nacht in den Schlaf geweint hatte. Als sie wieder alleine war, trank Maya in kleinen Schlucken den heißen Kaffee und sah zu, wie der grellorangefarbene Schein, der sich durch die Fensteröffnung reckte, sich langsam in das gelbweiße Licht des vollen Morgens wandelte. Stark war der pechschwarze Kaffee, und so süß, dass er sich im Mund mehr zäh denn flüssig anfühlte, die Schärfe des weißen Fisches mit buntem Gemüse noch steigerte, aus dem Maya roten Pfeffer und Koriander herauszuschmecken glaubte und zu dem es ebenfalls noch warmes Fladenbrot gab, das das Brennen auf Mayas Zunge und Gaumen wieder linderte. Doch obwohl Mayas Magen ihr zuvor wie ausgehöhlt erschienen war, war es ihr unmöglich, alles aufzuessen, was sich auf dem tiefen Teller aus dünnem, gehämmertem Metall befand. Aber es beruhigte sie, dass man augenscheinlich darauf bedacht war, sie bei Kräften zu halten.
Maya wandte den Kopf, als sich die Tür wieder öffnete und erneut die Frau hereintrat, dieses Mal einen Zuber voll Wasser vor sich herschleppend, ein Tuch über dem Arm und einen grobzinkigen Beinkamm mit den Fingern der einen Hand umklammernd, während der Handballen die Wand des Zubers stützte. Hinter ihr erschien Rashad, ein dunkles Stoffbündel und ein paar Stiefel in den Händen, die er neben Maya auf den Strohsack warf. »Ihre Kleidung für die Reise.« Neugierig griff Maya danach, ließ die Kleidungsstücke aber sofort wieder fallen, als sie sah, dass es sich um Hemd und Hosen handelte, wie Rashad sie trug, und dass diese sichtbar abgenutzt waren. Seine Mundwinkel krümmten sich in einem Anflug von Spott leicht nach unten. »Sie sind gewaschen.«
Maya stieg Schamesröte in die Wangen. »Ich … ich glaube, ich fühle mich noch nicht gut genug, um weiterzureisen«,
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