Unter dem Safranmond
»Komm mit.«
Mayas Herz raste angstvoll, und sie sah rasch zu den anderen Zelten hinüber. Hatte Rashad ihre Anwesenheit, ihre Nähe, ihre Bemühungen, Arabisch zu sprechen, als freizügiges Angebot missdeutet? Seine Schritte entfernten sich knirschend auf dem trockenen Boden, und Maya blieb nicht viel Zeit, sich zu entscheiden. Sie sprang auf und folgte eilig dem Klang seiner Stiefelsohlen, dennoch um genügend Abstand bemüht, unbewusst die Arme um sich geschlungen und leicht vornübergebeugt.
Es waren vielleicht zwanzig Yards, die sie gingen, dann blieb Rashad stehen, löste seinen Umhang von den Schultern und breitete ihn auf dem Boden aus, setzte sich aber in einiger Entfernung davon auf die nackte Erde. Nur langsam wagte Maya sich zu nähern. Rashad bewegte sich nicht. Vorsichtig ließ sie sich auf dem äußersten Rand des Stoffes nieder und sah den Araber von der Seite her an, der ihr jedoch keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Doch so schnell ließ sich Mayas Misstrauen nicht zerstreuen, und sie beobachtete ihn weiter aus den Augenwinkeln heraus, während sie ihren Blick vor sich in die Finsternis schweifen ließ, dann zum Himmel. Vor Staunen rang sie nach Atem.
Als schmiegten sich Erde und Himmel aneinander, waren die Sterne zum Greifen nahe. Myriaden von funkelnden Kristallsplittern, in einer Pracht und Herrlichkeit, die ihr nicht mehr irdisch vorkam, sondern ewig-göttlich. Eine tiefe Seligkeit durchzog Maya, auch wenn sie sich winzig fühlte unter dem Lichtermeer, und erschreckend unbedeutend. Ein Silberschweif zog durch das Indigo des Nachthimmels, betont langsam, als wollte er sichergehen, dass Maya ihn auch wirklich sah, ehe er beschleunigte und kurz über dem Horizont verglomm. Wünsch dir was! , jubelte eine Kinderstimme in ihrem Inneren, nein, zwei, drei. Maya, Angelina, Jonathan, vor vielen Jahren. Die Sternschnuppe war in Sekunden verglüht, wie ein Menschenleben angesichts der Ewigkeit. Tot. Im Himmel. Irgendjemand hatte ihr vor langer Zeit erzählt, dass die Seele eines Menschen zu einem Stern wurde, wenn er starb. Wer hat mir das nur … Großvater – Großvater war es, am ersten Weihnachtsfest in Black Hall. Welcher Stern ist seiner – und welcher Jonathans? Jonathan … Tränen liefen über Mayas Wangen, und ein Schluchzen entfuhr ihr. Jonathan gab es nicht mehr. Unvorstellbar. Entsetzlich in der unumstößlichen Gewissheit. In der Endgültigkeit. Und doch war er ihr so nahe, jetzt, hier, für immer, in dem, was sie von ihm in sich trug, an Gemeinsamem, an Erinnerungen, an Gefühlen. Maya weinte und verbarg die Hände vor ihrem Gesicht. Voller Scham, dass sie Rashad unlautere Motive zugetraut hatte, während er ihr das hier hatte zeigen wollen. Doch woher hätte ich wissen sollen … Wie sie ihren Eltern Kummer zugefügt hatte, weil sie ihrem Herzen gefolgt war. Wie hätte ich wissen können, dass ich das Falsche tat? Sie haderte mit sich, ihren Entscheidungen, verpassten Momenten, bat um Vergebung. Vor allem sich selbst. Und bei aller Bedeutungslosigkeit, aller Hilflosigkeit fühlte Maya sich geborgen und beschützt, und das nicht nur vom silbernen Licht der Sterne.
Rashad saß nur da und schwieg. Wartete, bis Maya sich leer geweint hatte. Dann erst sagte er leise, auf Arabisch, und so langsam, als wollte er sichergehen, dass Maya möglichst viel davon verstand: »Das ist, was die Wüste mit uns macht, wenn wir uns ihr öffnen: Sie zeigt uns, was in unserem Inneren verborgen liegt und schafft Klarheit. Nur wer stark genug ist, kann das ertragen.«
Ob Richard je stark genug gewesen war, sich in dieser Weise der Wüste zu öffnen? Oder war er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu erkunden, zu vermessen, Abenteuer zu bestehen und alles für seine Berichte festzuhalten? Und falls er es war – wie furchterregend muss dann das gewesen sein, was er in mir sah? Doch die Gedanken an Richard Francis Burton verloschen so schnell wie die Sternschnuppe. Und noch schneller verglühte der Gedanke an Ralph, der es nicht einmal gewagt hatte, der Realität ins Auge zu blicken.
Leb wohl, Jonathan.
Vielleicht aber hatte Rashad seine Worte vorhin mit Bedacht gesprochen, weil sie ihm wichtig waren.
»Ich hatte einen Bruder«, hörte Maya sich selbst in ihrer eigenen Sprache sagen. »Er starb im Krieg gegen Russland. Es ist noch nicht lange her. Deshalb war ich oben am Turm.«
Etliche Augenblicke verstrichen, ehe sie erneut Rashads Stimme hörte, ebenfalls in seiner eigenen Sprache. »Mein Vater
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