Unter dem Safranmond
Vergänglichkeit getrotzt hatte, seinen Bemühungen, es nicht weiter der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, von ihren gemeinsamen Stunden in seinem Arbeitszimmer. Von Oxford und seinen geschichtsträchtigen Bauten unter den Türmen. Dabei bemühte sie sich um eine lebendige, bildhafte Schilderung; dennoch musste sie Begriffe oft großzügig umschreiben, die in Rashads Vorstellungswelt nicht vorkamen, mit Gestik und Mimik veranschaulichen oder mit dem Finger in den Sand zu ihren Füßen skizzieren. Schnee beispielsweise, den Rashad nie gesehen hatte, nicht einmal wusste, dass es so etwas gab, denn in den Bergen wurde es sehr kalt und es regnete oft, aber nie gab es beides zugleich.
Und auch Rashad musste oft die Hände zu Hilfe nehmen, um auszudrücken, was er meinte, wenn er von seinem Vater erzählte, wie er ihm das Reiten beigebracht hatte, noch ehe Rashad als Kleinkind seine ersten Schritte gemacht hatte, ihn das Schießen lehrte und den Umgang mit dem Schwert. Hingerissen lauschte Maya seinen Erzählungen von den Falken, die die Männer seines Stammes züchteten und abrichteten, um Kleinwild und sogar Antilopen zu jagen. Denn wer Allah verehrte, durfte kein Fleisch essen, das nicht rituell geschlachtet und sorgsam ausgeblutet war. Die Falken von al-Shaheen trugen ausnahmslos ein weißes Federkleid. »Hell wie der Wüstensand, aus dem unsere Ahnen gekommen sind«, wie Rashad erklärte, und daraus leitete sich auch der Name ihres Stammes ab: al-Shaheen , »der weiße Falke«.
Von der immensen Wüste der Rub al-Khali berichtete er, die so feindlich war, dass selbst die Beduinen sie mieden. Sie nannten sie einfach Al-Rimal , »die Sande«, weil es dort nichts anderes gab außer Sand und Hitze, unvorstellbare Hitze, Hunderttausende von Meilen in alle Himmelsrichtungen. Nur an ihren Rändern entlang bewegten sich die Beduinen, wie in der kleineren Schwester der »Sande«, der Ramlat as-Sabatayn. Doch die Legende besagte, dass das nicht immer so gewesen war. Ehe haushohe Sandfluten sich ausbreiteten und nahezu alles Leben verscheuchten, hatte es dort angeblich Seen und Flüsse gegeben, Oryx-Antilopen, Wasserbüffel, Flusspferde und außerdem Esel, Ziegen und Schafe, die den Menschen als Nutztiere dienten. Denn im Herzen der heute verdorrten Landschaft stand eine Stadt, so prächtig und glänzend, dass sie die Sonne überstrahlte, reich vom Handel mit Weihrauch, und erbaut auf Befehl des mächtigen Königs Shaddad, ein Nachfahre Noahs.
»Iram, die Stadt der Säulen«, sagte Maya, und ihre Stimme klang verträumt.
»Sie kennen die Legende?«
Maya nickte. »Ich habe darüber gelesen. ›Geht und errichtet eine uneinnehmbare Festung, die sich hoch in den Himmel reckt, und baut um sie tausend Pavillons, jeder auf tausend Säulen aus Chrysolith und Rubin und die Dächer aus Gold‹«, zitierte sie aus dem Gedächtnis eine Stelle der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht , die ihr besonders in Erinnerung geblieben war.
»In unserer Heiligen Schrift heißt es, Iram sei vom Stamm von ’Ad bewohnt gewesen. König Shaddad hat die Warnungen des Propheten Hud missachtet, der die Bewohner zum rechten Lebenswandel ermahnte.«
»Und zur Strafe verschlang die Wüste die Stadt?«, riet Maya. Rashad nickte.
»So scheint jede alte Kultur ein Iram zu haben«, flüsterte Maya. »Eine Stadt, die nach der Legende für die Sünden ihrer Bewohner der Zerstörung anheimfällt. In der römischen Antike war es Pompeji, und in der griechischen berichtete Plato über das versunkene Inselreich von Atlantis.«
Ihre Sätze klangen in die Stille der Nacht hinein, und beide lauschten diesem Nachhall in ihrem Inneren, der dort etwas im Gleichtakt schwingen ließ, das so alt war wie die Menschheit selbst.
»Sssshhh«, machte Rashad unvermittelt. Aufmerksam horchte er in die Finsternis, die für Mayas Ohren lautlos war. Nur das leise Schnauben der Pferde war zu hören, und sogleich verstummte auch dieses, als lauschten sie ebenfalls. Kaum einen Herzschlag später ergriff Rashad mit der einen Hand sein Gewehr, mit der anderen Mayas Oberarm und riss sie mit sich hoch, als er aufsprang. Er zerrte sie durch den hoch aufwirbelnden Sand die wenigen Schritte zu den Steinstelen und brüllte etwas in Richtung der Zelte, in die sich seine Männer schon vor Stunden zum Schlafen zurückgezogen hatten, ebenso wie Djamila. Es war nur ein einziges Wort, doch es klang furchteinflößend. Maya fühlte sich halb zwischen die Blöcke geschoben, dann im Genick zu
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