Unter dem Safranmond
Hölle oder im Paradies war. So hat Allah gesehen, dass ich neben all meinen Verfehlungen auch recht gehandelt habe. Gepriesen sei Allah!
»Kannst du aufstehen?«, wollte die Stimme wissen.
Gehorsam rollte er sich auf seine linke Schulter und zuckte unter dem Schmerz zusammen, der durch Gelenk und Sehnen schoss. Doch er hatte schon größere Pein gelitten – davor . Er blinzelte hinauf, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine schwarze Gestalt beugte sich über ihn, von einer Aureole umlodert. War das ein Malak , ein Engel Allahs? Wenn dem so war – dann trugen Engel die Züge der Menschen, die einem im Diesseits am nächsten gewesen waren, zeigten dieselbe Mimik, sprachen mit derselben Stimme.
»Salim?«, krächzte Rashad ungläubig.
» Marhaba , willkommen«, entgegnete Salim mit breitem Grinsen.
»Wo … wo sind wir?«
»Am Rande der Al-Rimal. Drei Tagesreisen von Ijar entfernt.«
Rashad stützte sich mit seiner Rechten im Sand ab und rappelte sich in eine sitzende Stellung auf, strich über seine schorfigen Schienbeine und die roten Striemen um seine Fußgelenke. Mehrere seiner Zehen schillerten purpurn bis gelblich. Etwas bewegte sich kitzelnd an seinem Hals, teils kühl, teils glühend heiß, klingelte leise. Sein Blick fiel auf seinen linken Arm, der von einer Schlinge rechtwinklig vor dem Körper gehalten wurde. Sie bestand aus weißem Stoff, stellenweise blutgetränkt und verkrustet; weiß wie das lange Gewand, das Rashad trug und das er nun mit gerunzelter Stirn musterte.
»Du bist kein al-Shaheen mehr«, erklärte Salim mit belegter Stimme. »Das haben die Ältesten beschlossen, wie Ali mir berichtete.«
Stumm nickte Rashad. Er hatte nichts anderes erwartet. Wer die Ehre seines Stammes mit Füßen trat, ihm ’ayb , Schande, machte, konnte verstoßen werden. In einem Land, in dem das Leben durch ein feinmaschiges Netz von Gesetzen und Stammeszugehörigkeiten geregelt wurde, kam es einem Todesurteil gleich, durch dessen Maschen zu fallen. Jeder konnte mit Rashad von nun an verfahren, wie es ihm beliebte, ihn gar töten, ohne die Rache seines Stammes fürchten zu müssen. Und Rashad konnte nirgendwo hingehen, so weit dieses Netz reichte, weil er kein Recht mehr darauf hatte, das Gebiet eines anderen Stammes zu betreten oder dort um Schutz zu bitten. Er war vogelfrei. Obwohl er wusste, dass die Entscheidung der Ältesten, ihn auszuschließen, gnädiger war als diejenige, ihn zurückkehren zu lassen und mit dem Schandmal gebrandmarkt unter ihnen ein ehrloses Dasein zu fristen, wie es meist gehandhabt wurde, verspürte er Bedauern darüber, noch am Leben zu sein. Ohne sein Gewehr, ohne sein Schwert; vor allem ohne seine djambia , die ihm sein Vater überreicht hatte, als er in den Kreis der Männer aufgenommen worden war. Doch die größte Schande war gewesen, seinen eigenen Männern, denen er so lange Hauptmann und damit Vorbild gewesen war, als Gefangener in die Augen blicken zu müssen, ohne Ehre, voller Schuld. Ein tieferer Fall war für einen Krieger kaum vorstellbar. Wie Rashad es erlebt hatte, als er am Rande der Al-Rimal auf seine Männer und die des Sultans zugeritten war, um sich in ihre Hände zu begeben. Vom stolzen Krieger zum ehrlosen Verbrecher.
»Nashita hat die Scheidung ausgesprochen«, verkündete Salim die nächste Hiobsbotschaft, und wieder nickte Rashad. Auch damit war zu rechnen gewesen. Keine Frau von al-Shaheen wollte mit einem Mann verheiratet sein, der keine Ehre mehr besaß, unzumutbar war, auch für ihre Kinder. So war es nur vernünftig von ihr gewesen, von dem Recht Gebrauch zu machen, ihre Ehe zu beenden, ohne jemandem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, wie es beim Stamm von al-Shaheen und den meisten Beduinenvölkern Sitte war und beiden Geschlechtern gleichermaßen zustand.
»Wie geht es meinen Söhnen und meiner Tochter?«
»Sie haben keine Nachteile davongetragen. Für deine Tochter wurde ein guter Mann gefunden. Der jüngste Sohn von Hakim bin Abd ar-Rahman. Nächstes Jahr wird Hochzeit gefeiert.«
»Das ist gut.« Nashita und er hatten eine beträchtliche Anzahl von Schafen und Ziegen ihr Eigen genannt; außerdem galt sie als eine der geschicktesten Weberinnen und Näherinnen des Stammes, würde so keinen Hunger leiden müssen. Immer noch hübsch und anmutig, wäre sie sogar eine fabelhafte Partie für eine neue Heirat. Er hinterließ keine verbrannte Erde, sondern seine Familie, die ihn ohnehin selten zu Gesicht bekommen hatte, wohl versorgt und
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