Unter dem Safranmond
die Treppen hinauf. Martha horchte in das morgenstille Haus hinein, lächelte zufrieden, als sie Hazels energisches Flüstern hörte, schließlich die tiefe Stimme Dr. Symonds’ und eine Tür klappte, gefolgt von ungehaltenem Gemurmel im Korridor.
Ihr Gatte stand unbeweglich am Fenster und starrte in den anbrechenden Tag. Ein Sonntag. Die Glocken von St. Giles bimmelten eifrig, als wollten sie das Kind begrüßen, das in Black Hall das Licht der Welt erblickt hatte, am 9. März 1856. Martha dankte dem Herrn, dass das Haus derart solide erbaut war. Denn so fest, wie Gerald den Fensterrahmen umklammert hielt, hätte er ihn in einem Gebäude mit schlechterer Substanz zweifellos schon längst herausgerissen. Sie trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. »Es ist ein Junge, Gerald. Beide sind wohlauf und gesund.«
Er schien sie nicht gehört zu haben, rührte sich weiterhin nicht. Sie setzte an, um ihre Worte zu wiederholen, als sie ihn flüstern hörte: »So habe ich auch in der Turl Street gestanden, gewartet und gebetet. Bei … bei Jonathan noch nicht. Aber als du mit dem Jungen und den beiden Mädchen in den Wehen lagst.« Er schluckte, und er brachte die Worte nur mühsam hervor, als er fortfuhr: »Ich habe es dir damals nicht erzählt, weil ich dich nicht ängstigen wollte. Aber Emma … Emma starb im Wochenbett. Ein totgeborenes Mädchen, und zwei Wochen später verlor Emma den Kampf gegen das Kindbettfieber. Ich habe es dir nie erzählt, weil ich mir so sehr eine Tochter wünschte. Zu … zu dem Sohn, den ich bereits hatte.«
Martha schwieg, weil sie weder Gerald unterbrechen wollte noch wusste, was sie darauf hätte sagen sollen. Die heutige Nacht hatte ihr die Erinnerung an die drei Geburten, die sie selbst durchlebt und durchlitten hatte, zurückgebracht. Einen Sohn, den sie viel zu früh hatten begraben müssen, und zwei Mädchen, von denen das eine heute selbst ein Kind geboren hatte. Das war es wert , dachte sie , jede einzige Sekunde der Pein. Und sie hätte, ohne zu zögern, noch einmal diese Marter auf sich genommen, hätte sie ihren Stiefsohn damit ins Leben zurückholen können.
»Nachdem … nachdem uns Jonathan genommen wurde …«, sprach Gerald weiter, holte tief Luft. »Ich will Maya nicht auch noch verlieren. Nicht mein hübsches, kluges, starrköpfiges Mädchen.«
» Unser «, berichtigte Martha ihn, » unser Mädchen werden wir nicht verlieren. Oh, sie war so tapfer, Gerald! Sie ist so stark und kräftig – sie wird uns alle überleben, auch wenn sie noch zehn solch prächtiger Burschen zur Welt bringt!« Ihre Stimme zitterte.
Gerald wandte sich ihr zu. Die ersten Lichtstrahlen des Tages glänzten auf seinen Wangen. Er zog sie in seine Arme, und an seine Schulter gelehnt, weinte Martha Greenwood.
7
»Wach auf! He, wach auf!« Seine Lider waren schwer, so schwer, die Wimpern verklebt. Doch die Hand, die ihn rüttelte, die Stimme, die ihn rief, ließen ihm keine Ruhe. Er biss die Zähne zusammen und riss die Augen auf, kniff sie sogleich wieder zu, denn die Helligkeit bohrte sich mit glühenden Stäben hinein. In ihn, der nur noch die Finsternis gewohnt gewesen war. »Wach auf!«
Stöhnend wagte er einen neuen Versuch, blinzelte in das grelle Licht hinein. Überall goldener Schimmer. Über ihm, ihn umgebend, ihn tragend. Seine rechte Hand, die neben ihm lag, krallte sich in den Boden, griff heißes, samtiges Pulver. Er hörte das Zischen des Windes, das sein Wiegenlied gewesen war. Sein Mund öffnete sich, verzog sich zu einem Lächeln. Das war es also – Achira , das Jenseits! Doch das Paradies konnte es nicht sein, nein, nicht für ihn. Dies war kein blühender Ryadh , kein Garten mit Bächen, in denen kühles Wasser und Milch und Honig flossen, voller Dattelpalmen und Granatapfelbäumen, wie es die Heilige Schrift denjenigen verhieß, die ein rechtes Leben geführt hatten. Noch hatte es Ähnlichkeit mit der Hölle, dem Ort der Verdammten, die dem ewig lodernden Feuer darin Nahrung waren, Speisen und Getränke wie geschmolzenes Erz vorgesetzt und Kleidungsstücke aus flüssigem Kupfer übergezogen bekamen. Die Marterwerkzeuge wie Fesseln, Ketten und Eisenstöcke hatte er bereits abgeworfen. Das Lächeln auf seinem zerschundenen Gesicht wuchs. Nein, er war noch nicht an einer der beiden Stätten ewiger Vergeltung angelangt. Sondern Allah in seiner unendlichen Gnade musste ihn in die A’raf , die Zwischenwelt, verwiesen haben, bis entschieden war, ob sein Platz in der
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