Unter dem Safranmond
zögerte. Rashad. »Rechtschaffenes Verhalten«. Das war einmal.
»Abd ar-Ra’uf«, erwiderte er kurzerhand, » Diener des Allerbarmherzigsten.«
Ohne Vater. Ohne Familie und Stamm. Ohne Vergangenheit. Ein neuer Name. Ein neues Leben.
» Marhaba in unserer Mitte, Abd ar-Ra’uf«, erwiderte der Händler mit listigem Blick und drehte sich unter seinem ziegenähnlichen Gelächter wieder im Sattel um, hin zu der untergehenden Sonne, in deren rote Glut sie hineinritten.
8
Maya lächelte, als sie schwungvoll die letzte Treppenstufe hinuntersprang. Durch das halbe Haus war vergnügtes Quietschen zu hören, das sich immer wieder zu glucksendem Lachen steigerte. Auf Zehenspitzen huschte sie zur Vitrine zwischen den Türen von Salon und Speisezimmer und spähte vorsichtig um den Türrahmen herum. Ihre Mutter saß auf dem Sofa und schaukelte von Angesicht zu Angesicht ihren Enkel auf den Knien ihres lichtgrauen Kleides, girrte und gurrte, rollte mit den Augen und klimperte mit den Augendeckeln, zog Grimassen und ließ den Kleinen immer wieder wohlbehütet in ihren Armen ein Stückweit hintenüberfallen, was einen schrillen Laut des Kindes zur Folge hatte, halb entzückt, halb ängstlich, bevor beide in Lachen ausbrachen. Zärtlich ruhten Mayas Augen sowohl auf ihrer Mutter als auch auf ihrem Kind.
Ihr Sohn. Der Familientradition nach, der zufolge immer der Erstgeborene einer Generation entweder die Namen »Jonathan« oder »John« trug, und im Gedenken an ihren Bruder, hatte Maya sich für ersteren entschieden und letztlich den kompletten Taufnamen ihres Bruders übernommen. Daher hatte der Neuankömmling der Greenwoods über dem Taufbecken von St. Giles die beiden Namen »Jonathan« und »Alan« erhalten: Jonathan Alan Greenwood Garrett.
Um in Gesprächen Verwechslungen mit dem zwar toten, aber keineswegs vergessenen Jonathan zu vermeiden, wurde der Kleine einfach »Jonah« genannt. Doch wenn sie mit ihm allein war, nannte Maya ihn Tariq , »Morgenstern«, weil er im Morgengrauen seinen ersten Schrei getan hatte, aber auch, weil seine Geburt vor über einem halben Jahr wie ein glückliches, hoffnungsfrohes Omen gewesen war.
Noch im selben Monat, im März 1856, war auf der Konferenz von Paris ein Waffenstillstand beschlossen und schließlich ein Friedensvertrag unterzeichnet worden. Seine wichtigsten Bedingungen spiegelten die Kriegsmüdigkeit und Erschöpfung der beteiligten Parteien wider: Besetzte Gebiete mussten an ihren früheren Eigentümer zurückgegeben werden, wie Balaklawa und die völlig zerstörte Stadt Sebastopol an Russland und die armenische Provinz von Kars an das Osmanische Reich, dessen Integrität im Friedensvertrag von nun an garantiert werden sollte. Das Schwarze Meer wurde zur neutralen Zone erklärt, in der nur noch Handelsschiffe aller Nationalitäten verkehren durften, nicht aber Kriegsschiffe. Das Fürstentum Moldau und die Walachei wurden unter gemeinsamen Schutz der Großmächte gestellt. Russland wurde nicht zu Reparationszahlungen verpflichtet, und die Frage, wer die auf osmanischem Gebiet liegenden heiligen Stätten der Christenheit behüten sollte, an der sich der Konflikt entzündet hatte, der in den Krieg mündete, blieb weiter ungeklärt. Geschätzte dreihunderttausend Tote hatte der Krieg auf beiden Seiten der Frontlinien gefordert; über zwanzigtausend allein in der Armee Großbritanniens, von denen aber lediglich nur rund fünftausend im Kampf oder an ihren darin erlittenen Verwundungen gestorben waren. Der Rest war erfroren, verhungert und Cholera oder anderen Krankheiten zum Opfer gefallen. So viele Menschenleben – allein um bis auf wenige Details den Status quo vor Russlands Übergriff wieder herzustellen. Doch zumindest war dieser grauenvolle Krieg auf der Krim nun endlich vorüber, und es herrschte Frieden.
»Amüsiert ihr euch?«, fragte Maya, als sie über die Schwelle trat.
Martha sah auf und strahlte. »Prächtig! Nicht wahr, mein Goldschatz«, wandte sie sich wieder Jonah zu, » prrrääächtiiiiggg! Ja, mein Hübscher? Jajajaaaaaaa?« Begeistert fiel Jonah in das Kieksen am Ende der Worte seiner Großmutter ein und erging sich dann darin, ihr mit den Händchen ins Gesicht zu patschen und gleich darauf nach den baumelnden Ohrringen zu grapschen. Maya biss sich auf die Lippen und kicherte in sich hinein. Es war zu drollig, wie ihre früher stets um Haltung bemühte Mutter sich mit dem Kleinen bereitwillig zum Narren machte. Damit war sie keineswegs allein: Ganz
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