Unter dem Safranmond
das Glas auf dem Tisch ab und stand wortlos auf, ging durch den Salon und blieb an einem der Fenster stehen. »Möglich«, entgegnete sie ausweichend.
Warm eingepackt stapfte Jonah durch das herbstfeuchte Gras und die ersten gelben Blätter darauf. Immer wieder betrachtete er staunend das zum Schritt vorgereckte Beinchen, als könnte er nicht fassen, dass es seinem Willen gehorchte. Aber vielleicht bewunderte er auch nur seine neuen schwarzen Stiefel oder die warme Flanellhose. Ab und an geriet er aus dem Gleichgewicht, kippte mit dem Oberkörper vornüber und stützte sich auf dem Erdboden ab, bis er sich wieder sicher fühlte. Anschließend kam er dann wieder in die Senkrechte, die kleinen Hände voll mit bunten Blättern, die er freudestrahlend Jacob hinterhertrug, der ihn zu dem Laubhügel schickte, den er bereits an einer Stelle des Rasens angehäuft hatte. Jonah warf seine Ladung darauf, und auch wenn die meisten Blätter danebenflatterten, lobte Jacob ihn überschwänglich.
»Denkst du noch oft an ihn?«, hörte sie ihre Tante leise hinter sich fragen. Dieses Mal gab es keinen Zweifel, von wem sie sprach. Maya kniff die Augen zusammen, biss sich auf die Lippen, so lange, bis der stechende Schmerz in ihr nachgelassen hatte.
»Jedes Mal, wenn ich Jonah ansehe«, hauchte sie der Fensterscheibe entgegen.
Als Tante Elizabeth zu ihr trat, brach Mayas die letzten Tage mühsam aufrechterhaltene Fassade. »Es fühlt sich so falsch an«, stürzte es aus ihr heraus, mit dünner, zerschlissen klingender Stimme und unter Tränen. Sie zerrte am Stoff ihres Witwenkleides. »Das hier. Und das.« Ihre gespreizte Linke hob sich, präsentierte den massiven Goldreif an ihrem Ringfinger. »Falsch und doch richtig. Ich möchte Ralph damit die Ehre erweisen und fühle mich doch als Heuchlerin, weil ich schon lange davor Witwe war, es aber niemandem zeigen konnte und froh bin, dass ich es nun darf. Ich trauere um Ralph, aber er fehlt mir nicht. Als … als ich Arabien verlassen habe, wusste ich, dass ich ein Kapitel meines Lebens abgeschlossen hatte. Ein kleines, aber umso bedeutsameres. Jetzt, da Ralph … jetzt ist ein viel größeres Kapitel zu Ende, und mir graut vor all dem, was noch vor mir liegt.« Sie schöpfte Atem. »Ich fühle mich so schlecht, Tante, weil ich nicht vergessen kann und … und weil mir meine Trauer so verlogen erscheint. Alles ist so … so verwirrend, nicht so, wie es sein sollte …«
Ihre Tante streichelte ihr die nasse Wange. »Das liegt daran«, erklärte sie zärtlich, »dass Gefühle sich nicht steuern lassen und sich nicht unserem Willen beugen. – Martha sagte mir, seine Mutter hätte dir auf dein Kondolenzschreiben hin einen bösartigen Brief geschrieben?«
Maya nickte, während sie in ihr schwarzumrandetes Taschentuch blies. »Liegt dort drüben auf dem Beistelltisch. Du kannst ihn gerne lesen.«
Das ließ sich eine Elizabeth Hughes nicht zweimal sagen. Im Stehen zog sie das Schreiben aus dem geöffneten Kuvert. »Was sagt man dazu!«, schnaubte sie, als sie das beschriebene Blatt wieder zusammenfaltete, das in eisigem Tonfall Maya darüber in Kenntnis setzte, dass Mary-Ann Chisholm Garrett im Einvernehmen mit dem Rest der Familie keine weitere Kontaktaufnahme seitens Mayas wünsche, mit der ihr im Kampf gefallener Herr Sohn unglückseligerweise eine Mesalliance eingegangen sei. Jegliche Ansprüche Mayas auf Familienbande oder gar finanzielle Zuwendungen seien mit dessen Heldentod erloschen, was ebenso für ihren Sprössling gälte. »Nun, jeder hat so seine Art zu trauern«, seufzte sie, als sie den Umschlag zurücklegte. »Aber wenn diese Person bereits zu Ralphs Lebzeiten – gar in seiner Kindheit! – auch nur annähernd so giftig und snobistisch war, wundert’s mich nicht, dass aus ihm kein rechter Mann geworden ist.« Entschuldigend hob sie die Hände, als sie Mayas Blick auffing. »Ja, ich weiß, man soll nicht schlecht über die Toten reden! Aber du musst zugeben, dass Ralph weiß Gott kein Engel war! Mag er auch wie einer ausgesehen und nun ›Ruhm und Ehre des Vaterlandes‹ auf seinem Soldatengrab vor Delhi geschrieben stehen haben.«
Erneut stellte sie sich neben Maya an das Fenster und strich ihr über die Schulter. »Kind, ich glaube, dir täte eine Luftveränderung gut. Etwas Abwechslung.« Als Maya abwehrend, mit fast erschrockenem Gesichtsausdruck, den Kopf schütteln wollte, beeilte sie sich hinzuzufügen: »Jeder hätte Verständnis dafür! Solange du weiterhin
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