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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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in der Gegend alles ruhig gewesen. Derart ruhig, dass Lumsden zusammen mit seinem jüngeren Bruder auf diplomatische Mission zum Emir von Kandahar entsandt worden war. Stiefelschritte näherten sich in größter Hast, und es klopfte am Türrahmen des Bungalows. »Lieutenant Garrett, sahib !«
    Er wandte sich um. Einer seiner Soldaten, Samundar Khan, ein Pathane, in Khakiuniform und mit Turban, salutierte zackig, und die Worte sprudelten sogleich hervor: »Ein Aufstand im Land, Lieutenant- sahib ! Delhi ist in den Händen von Rebellen!«
    Ralph sah ihn ungläubig an. »Das ist unmöglich!«
    »Nein, Lieutenant- sahib «, der Pathane rang nach Atem, »eben kam ein Bote aus Lahore, die sepoys dort hat man vorsichtshalber entwaffnet. Es gab viele Tote in Delhi, und man befürchtet, die Rebellen marschieren nach Agra.« Agra – eine der größten Garnisonen auf dem Subkontinent!
    »Ich komme!« Ralph sprang auf, wollte schon aus dem Bungalow stürzen, lief in Riesenschritten noch einmal zurück, um seinen Uniformrock vom Stuhl zu reißen, und stürmte Samundar Khan in Richtung Exerzierplatz hinterher.
    Der Luftzug, den der Serge-Stoff des Rockes in der schwungvollen Bewegung verursacht hatte, hob den Bogen mit dem angefangenen Brief sachte an, sodass er über die Kante glitt. Unschlüssig verharrte er für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft, ehe er weite Seitwärtsschwünge machte und unter den Tisch segelte, wo er in aller Unschuld liegen bleiben sollte.
    Sechs Stunden später waren fast alle Bündel des Regiments geschnürt, darunter auch das von Lieutenant Garrett, der sich freiwillig gemeldet hatte. Zusammen mit einer Handvoll anderer Offiziere und mehr als fünfhundert Soldaten marschierte er um sechs Uhr abends unter dem Kommando von Captain Henry Daly in Richtung Rawalpindi, in die nächstgrößere Garnison. Unterwegs galt es bereits zwei kleinere Militärstützpunkte abzusichern, bevor sie in Rawalpindi weitere Befehle erhalten würden. Der Rest der Guides sollte zusammen mit Soldaten anderer Regimenter in der Nähe dafür sorgen, dass zumindest in Mardan und in der weiteren Nachbarschaft keine Unruhen zu befürchten waren.
    Ich schreibe Dir von unterwegs, Maya. Oder spätestens, wenn ich zurück bin. Es wird nicht lange dauern!
    In derselben Nacht fegte ein Sandsturm durch Hoti Mardan und das Fort, wie so oft um diese Jahreszeit, schlug Fensterläden zu und wieder auf, die in der Eile des Aufbruchs zu schließen vergessen worden waren. Riss so lange an manch einer Bungalowtür, bis sie aufsprang und der Wind freie Bahn hatte, über Boden und Mobiliar zu huschen. Mit staubdurchsetzten Fingern nahm er Ralphs Brief an Maya an sich und trug ihn fort, irgendwo in Richtung Hindukusch.
    In Mardan, Peshawar und Rawalpindi, wo man ständig in Alarmbereitschaft verharrte, weil Angriffe von jenseits der Grenzen des Landes drohten und die Augen konzentriert auf die Berghänge gerichtet hielt, traf die Nachricht von der Rebellion völlig überraschend ein. In den Garnisonen im Landesinneren jedoch hätte man vorbereitet sein können – hätte man die Zeichen der Zeit erkannt. Schon lange hatte die Stimmung in den Dörfern, in den Städten und Garnisonen gegärt. Gerüchte hatten die Runde gemacht, dass das Ende der britischen Herrschaft nahe sein, im hundertsten Jahr nach der Schlacht von Plassey, in der die Briten den endgültigen Sieg auf dem Subkontinent davongetragen hatten. In jenem hundertsten Jahr, von dem eine alte Prophezeiung behauptet hatte, es würde die Kolonialmacht über Indien zu Fall bringen. Gerüchte vor allem, die papiernen Patronenhülsen der neuen Enfield-Gewehre, mit denen die Armee kürzlich ausgestattet worden waren, seien mit Rindertalg und Schweineschmalz eingefettet – ein Sakrileg für jeden Hindu und jeden Moslem, der beim Laden der Waffen die Papierhülse aufbeißen musste. Trotzdem war dies, verglichen mit dem wachsenden Misstrauen gegenüber den fremden Kolonialherren und der Furcht davor, dass Kultur, Brauchtum und Religion durch neu beschlossene Gesetze der Briten beschnitten oder gar zerstört würden, eher nebensächlich. Es gab kleine Meutereien, zu Jahresbeginn und im Frühjahr, punktuell im Land verteilt, die allesamt rasch und ohne viel Mühe niedergeschlagen werden konnten. Nichts Ernstes, wie es hieß. Allen Gerüchten zum Trotz wiegten sich Militär und Verwaltung in Sicherheit. Lange. Viel zu lange.
    Ein zunächst kleinerer Vorfall hatte schließlich eine verheerende

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