Unter dem Safranmond
ertönte nun lautstark eine Jungenstimme unten auf der belebten Gasse, drang inmitten von Stimmengewirr und Rädergeklapper durch die beiden geöffneten Flügeltüren zum Balkon herauf. »Tariq! Yalla! «, rief eine zweite, die gegen Ende des Satzes unwillkürlich kiekste, ansonsten rau klang, da Abbas, der Sohn des Gemüsehändlers, bereits im Stimmbruch war. Nun wippte Jonah in den Knien auf und ab und verzog ungeduldig das Gesicht. Dass seine Mutter es mit den Aufgaben immer so genau nehmen musste! Sie wusste doch, dass er auch ohne viel Aufwand gute Noten mit nach Hause brachte! Er musterte ihr Gesicht von der Seite, die ersten Querlinien unter den Augen, die teilweise vom Gestell der Brille verdeckt wurden, die sie seit letztem Winter trug, wenn sie am Schreibtisch saß. Wenigstens hatte sie erreicht, dass sein Lehrer ihm keinen neuen Tadel für sein Herumgezappel während der letzten Schulstunde des Tages mehr erteilt hatte. »Jungen in diesem Alter brauchen Bewegung, und es ist Ihre eigene Verantwortung, wenn Sie Ihnen zwischen den Stunden nicht genug Möglichkeiten dazu bieten!«, hatte Maya diesen vor dem Klassenzimmer angefaucht und war dann mit einem energischen »Komm, Jonah!« hoheitsvoll in ihrem schwarzen Kleid davongerauscht.
»Sehr gut«, sagte sie endlich, und Jonah entfuhr ein erleichtertes Seufzen, als sie ihm das Heft zurückgab. Flink wie der Wind sauste er in sein Zimmer, tauschte das Schulheft gegen den Lederball, den er aus den Sommerferien in Black Hall mitgebracht hatte, streifte sich seine Sandalen über und sprang darin die Treppen hinunter. »Bis heute Abend!«, hörte er seine Mutter rufen.
»Ja-haaaa«, kam seine geistesabwesende Antwort, gedanklich schon beim Ballspiel mit seinen Freunden. Klipp-klapp, klipp-klapp, klipp-klapp , machten seine Sohlen beim Spurt die Treppen hinunter, bonk! , der Satz über die letzten Stufen hinweg, auf den gefliesten Boden der Halle hinab. Den Ball unter den Arm geklemmt, riss er die Tür auf und stürmte über die Schwelle, direkt in einen braunen Herrenanzug hinein. Durch den Aufprall flutschte der Ball aus seiner Umklammerung, doch der Gentleman fing ihn geschickt auf und reichte ihn Jonah zurück. Jonah schluckte. Furchterregend sah der Mann aus! Ein hageres, kantiges Gesicht. Schwere dunkle Brauen über den finsteren, schmalen Augen, und links und rechts des lang herabhängenden, schwarzglänzenden Oberlippenbartes tiefe Narben von sichtlich schweren Verwundungen. Jonah war ebenso erschrocken wie fasziniert von diesem Gesicht, und so entging ihm, dass sein Gegenüber ihn ebenso eindringlich musterte: das glatte, gleichfalls schwarze Haar, das ihm in die flache Stirn fiel; ein Jungengesicht, das kaum mehr Weichheit enthielt, schon den Mann erahnen ließ, aber in seiner ovalen Gesamtform von seiner Mutter stammte, ebenso wie die großen Augen, die nur einen Hauch von Goldschimmer hatten, so dunkel waren sie. Seine Nase war allerdings recht ausgeprägt, und seine Lippen voller. Jonah hatte sich wieder gefangen, zögerte aber noch, ob er sich höflichkeitshalber auf Englisch oder Arabisch bedanken sollte. Denn obschon der Mann aussah wie ein Einheimischer, trug er doch eindeutig einen englischen Anzug mit dazugehörigem Hut. Schließlich entschloss sich Jonah zu einem unverständlichen Gemurmel, das beides hätte sein können bis hin zu einer Beschimpfung. »Tariq! Tariq!«, riefen seine Freunde und sprangen winkend auf und ab. Jonah wollte schon zu ihnen hinrennen, als der Mann ihn an der Schulter festhielt.
»Ist deine Mutter zuhause?«, fragte er ihn in fließendem Arabisch. Jonahs Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. Was konnte dieser merkwürdige Finsterling von seiner Mutter wollen? Er war es gewohnt, dass oft Fremde ins Haus kamen, Reisende, die Maya Greenwood Garretts Hilfe als Dolmetscherin benötigten oder für eine Übersetzung. Oder welche, die eines ihrer Bücher gelesen hatten, gerade in Cairo waren und es signiert haben wollten. Doch dieser Besucher war ihm unheimlich. Und eingedenk Tante Elizabeths Rede, er sei doch hier der Mann im Haus, bedeutete er seinen Freunden, auf ihn zu warten, und schob sich rücklings gegen die Tür, sorgsam mit den Beinen den Eingang dabei blockierend. »Mama«, rief er an das Türblatt gelehnt auf Englisch hinauf. »Da ist ein Mann, der dich sprechen will!«
»Wer ist es denn?«, erklang die Stimme seiner Mutter.
»Ich bin’s, dein alter Gauner!«, rief der Mann zu Jonahs
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