Unter dem Safranmond
Artefakten alter Kulturen standen, die vor ihnen hier gewesen waren: die der Pharaonen, die auch die Pyramiden von Gizeh erbauen ließen, gigantischen Monolithen gleich, der Ewigkeit gemahnend, und die der Sphinx, jenes monumentalen Fabelwesens, das aus leeren Augen in die Wüste hinausstarrte. Bauwerke, die vielleicht beim dritten oder vierten Besuch noch überwältigender waren als beim ersten. Bis nach Sakkara, zu den dortigen Stufenpyramiden, und nach Alexandria führten sie ihre Ausflüge. Und es berührte Maya zutiefst, den Stolz in den Augen Geralds zu sehen, wenn er eines der Bücher in die Hand nahm, die sie verfasst hatte – oder wenn er Jonah betrachtete, ihm im Museum etwas erklärte oder umgekehrt Jonah ihm die Geschichte eines bestimmten Bauwerks erzählte, wie er sie bei seinen Freunden oder in der Schule gehört hatte.
Zwei- oder dreimal hatte Jonah nach seinem Vater gefragt. Maya hatte in bestem Glauben geantwortet, er sei tot, genau wie sein Onkel, nach dem er benannt worden war, und einstweilen hatte er sich damit zufriedengegeben. Er würde irgendwann wieder fragen, detaillierter wahrscheinlich, darüber machte sie sich keine Illusionen. Doch was sie ihm dann sagte – das würde sie überlegen, wenn es so weit war.
Das indische Armband, das Ralph ihr aus Mardan geschickt hatte, trug sie nie; denn es erinnerte sie immer an diesen blutigen Aufstand, in dem er sein Leben verloren hatte. Doch sie trug den Ehering am linken Ringfinger, für Ralph, die Münze aus Himyar eingefasst an einer Kette um den Hals, für Rashad, und Witwenschwarz für beide. Immer noch. Jahr um Jahr. Nun begriff sie, weshalb Tante Elizabeth auch nach so vielen Jahren keine Farben trug. Denn nichts gab Maya mehr Freiheit als diese Witwentracht, die einem Bollwerk der Schicklichkeit gleichkam und alle Grenzen, die Maya als junges Mädchen so beengt hatten, nicht mehr existieren ließ. Es war Ralphs freier Wille gewesen, Soldat zu sein, sein Schicksal, im Aufstand der sepoys zu sterben. Mit seinem Tod aber hatte er ihr unfreiwillig das größte Geschenk gemacht – sie war frei. Frei zu gehen, wohin sie wollte, zu tun, was ihr beliebte, ohne dass die Gesellschaft aus tausend Augen über ihre Sittsamkeit wachte.
Doch Maya trug auch weiterhin Schwarz, weil es eine Art von Trauer gibt, die niemals endet. Wie es Gefühle gibt und Erinnerungen, die nie verlöschen. Nur leiser werden. Sie hatte aufgehört, der Vergangenheit entfliehen zu wollen, war sie doch das Fundament, auf dem Gegenwart und Zukunft ruhten. Jonah war der lebende Beweis dafür.
In Mayas Bibliothek fand sich auch eine Ausgabe von Richard Francis Burtons First Footsteps in East Africa . Oft nahm sie es zur Hand und schlug es auf der ersten Seite auf. » Mir scheint, einer der glücklichsten Momente im Leben eines Menschen ist der Aufbruch zu einer weiten Reise in unbekannte Länder … « Dabei lächelte sie in sich hinein, erinnerte sich an ihn, der ihr den Stoff für die Träume ihrer Kindheit und Jugend geliefert hatte, und sie dachte an ihren eigenen Aufbruch nach Black Hall und später hierher, nach Cairo.
Ausgaben der Times und das, was ihr Vater, noch immer unermüdlich in Diensten des Balliol College, aus Gelehrtenkreisen erfuhr, hatten ihr erlaubt, Richards Lebensweg weiter zu verfolgen. Unbeschadet hatte er den Kriegsschauplatz der Krim verlassen, war nach Bombay zurückgekehrt, dann nach Sansibar gereist, um seinen Traum wahr zu machen: eine Expedition zu den Quellen des Nils im Osten Afrikas. Eine Reise nach Nordamerika folgte, dann der Posten eines Konsuls in Westafrika, schließlich einer im brasilianischen Santos. Einen weiteren Brief Mayas hatte er unbeantwortet gelassen, ebenso wie ihre aufrichtig gemeinten Glückwünsche zu seiner Hochzeit mit Isabel Arundell im Januar 1861. Noch nach all der Zeit hatte es ihr einen Stich versetzt, von seiner Heirat zu hören. Doch noch mehr, dass er ihr keine Zeile mehr schrieb. Sie hegte jedoch keinen Groll; nur nostalgische Erinnerungen und Dankbarkeit. Hatte er ihr nicht schließlich den Weg geebnet, der sie hierhergebracht hatte – mit Jonah?
Maya war jetzt sechsunddreißig und hatte schon die ersten vier grauen Haare an ihrem Spiegelbild entdeckt. Sie war glücklich, endlich zufrieden mit ihrem Leben, und endlich verwurzelt, hier, am Schnittpunkt zwischen westlicher und östlicher Welt.
Nur manchmal, wenn der Wind durch die Gasse fegte und durch das geöffnete Fenster einen Hauch von Sand zu ihr an den
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