Unter dem Safranmond
Schreibtisch trug, schloss sie die Augen und sah Rashad vor sich. Es gab Momente, in denen sie durch die Straßen ging und ihr Herz stockte, weil sie im Getümmel einen Mann erblickt hatte, der auf den ersten, flüchtigen Blick aussah wie er, dem enttäuschenden zweiten aber nicht standhalten konnte. Am schmerzlichsten waren die Augenblicke, in denen Jonah konzentriert mit etwas beschäftigt war oder in Gedanken versunken. Dann wurden seine Augen schmal, bildete sich über der Nasenwurzel eine steile Falte, und Maya glaubte, seinen Vater in jungen Jahren vor sich zu haben. Unerträglich war es, wenn Jonah mit dem innehielt, was er gerade tat, und zu lauschen schien, halb in sich hinein, halb nach draußen in die Welt. Als hörte er den Ruf der Wüste, die er im Blut hatte und in der er gezeugt worden war. Dann musste Maya das Zimmer verlassen, weil sie es nicht ertrug. Denn das Herz vergisst niemals. Die Sehnsucht bleibt – auf beiden Seiten des zerrissenen Bandes.
12
Der Gesang der Zikaden füllte die Nacht und bildete in seiner ausufernden Üppigkeit, seinem silbernen Tonfall, mit dem er sich ausbreitete, ein irdisches Gleichgewicht zum Sternenhimmel. Eines der Kamele grummelte vor sich hin, als fühlte es sich durch das Insektenkonzert in seinem wohlverdienten Schlaf gestört. Der Küstenstreifen der Tihama, der »Heißen Erde«, ein Flickenteppich aus Steinwüste, wadis , üppigen Feldern und Mangrovensümpfen, die bei steigendem Meeresspiegel überflutet wurden, bei Ebbe auf weite Salzflächen hinausblickten, war in Finsternis getaucht. Doch heiß war es noch immer, hier, auf etwa halbem Weg zwischen der Hafenstadt Al Mokha und dem Bab el-Mandeb, wo Arabien afrikanische Züge trug: in der Hautfarbe seiner Menschen, ihrem Zungenschlag, ihren Sitten und Bräuchen, der grellen Buntheit und den gebatikten Mustern der Stoffe, die sie in der feuchten Hitze webten, färbten und trugen. Nur wenn die Zikaden einen Herzschlag lang verstummten, wenn das Ohr sich von der plötzlichen Stille erholt hatte, war das nahe Meer zu hören, glucksend, sprühend über Sand und Fels. Ansonsten ging es im Prasseln des Feuers unter, während sich die rastende Karawane, müde von einem langen Tagesritt, mit gebratenem Ziegenfleisch und Brot stärkte.
Rashad, der nun auf den Namen Abd ar-Ra’uf hörte, beugte sich vor und schob einen ins Rutschen geratenen Ast tiefer unter die Flammen, die zuckten und sich dann gierig auf die frische Nahrung stürzten. Der Anhänger seiner Halskette glitt aus dem Ausschnitt seines Gewandes und glänzte im Feuerschein. Er bemerkte es nicht, denn die Wärme des Goldes auf seiner Haut, das kaum hörbare Klimpern von Ring gegen Medaillon waren ihm über die Jahre so vertraut geworden wie sein Herzschlag, den nur er hören konnte.
Doch Yusuf bin Nadir, der alles kaufte und verkaufte, was sich zu Geld machen ließ, sah es sehr wohl.
»Hübschen Schmuck, den du da trägst, Abd ar-Ra’uf«, schnarrte er über das Feuer hinweg.
Scheinbar gleichgültig und ohne Hast ergriff Rashad den Anhänger und ließ ihn unter den einst weißen, durch Staub, Schweiß und Sand ockerfarben und grau gesprenkelten Stoff zurückfallen und zog sich wortlos in den Schatten am Rand des Lagerfeuers zurück.
»Nun reisen wir schon so viele Jahre zusammen durch das Land, und ich weiß nichts über dich«, ließ der Händler nicht locker und kniff seine Augen zusammen, um durch Rauch und tanzendes Schummerlicht einen Blick auf das Gesicht seines Gegenübers zu erhaschen. Rashad verzog jedoch keine Miene.
»Ihr wisst genug«, entgegnete er nach einer kleinen Pause höflich mit Distanz, während Yusuf ihn vom ersten Tag an geduzt hatte. »Ich beschütze und verteidige Euer Leben wie Eure Waren mit meinen Waffen. Das allein ist wichtig.« Sobald sich seine durch die Soldaten des Sultans von Ijar ausgekugelte Schulter erholt hatte, hatte Yusuf ihm ein Gewehr und ein Schwert in die Hände gedrückt, und von beidem hatte er auf ihren langen Wegen kreuz und quer über die arabische Halbinsel häufig Gebrauch gemacht. Yusuf lachte, sein unverkennbares Lachen, wie das Meckern einer Ziege.
»Das ist wohl wahr! Du leistest mir treue Dienste als Wache. Doch als Begleiter bist du wenig unterhaltsam.«
»Ihr bezahlt mich auch als Wache, nicht als Gaukler.«
Yusuf lachte erneut. »Auch das ist wahr, Abd ar-Ra’uf. Aber ebenso wahr ist, dass ich dich gut kennengelernt habe in diesen Jahren. Auch ohne dass du je von dir erzählt hast.«
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